Türkische Demokratie versinkt im Notstand
Drastische Drohungen gegen alle, die trotz Aufforderung der Regierung nicht ins Land zurückkehren
Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan lässt sich in seiner Politik des Umbaus des türkischen Staates hin zu einem Präsidialregime mit diktatorischen Zügen nicht beirren. Seit dem Putschversuch vom 15. Juli regiert Erdogan mit Ausnahmegesetzen, die ihn jeglicher Konsultation mit parlamentarischen Gremien entheben. Auf dieser Grundlage wurden in der Nacht zu Sonnabend vom Präsidentenpalast erneut drei Dekrete veröffentlicht, die die demokratische Bewegungsfreiheit ein weiteres Mal empfindlich beschneiden.
So sind jetzt auch alle Türken, die sich zur Zeit im Ausland befinden, gehalten, sich binnen drei Monaten bei den ihnen angegebenen türkischen Behörden einzufinden. Tun sie das nicht, verlieren sie automatisch ihre Staatsbürgerschaft. Dies kann nicht allein für sie selbst von eklatantem Nachteil sein, sondern auch für in der Türkei verbliebene Familienmitglieder. Es drohen ihnen Gerichtsverfahren und der Verlust von Eigentumstiteln an Grund und Boden. Wer keine türkische Staatsbürgerschaft besitzt, kann in der Türkei zudem kein Erbe antreten. Diese Drohung des türkischen Staates ist vor allem gegen jene gerichtet, die sich seit der Repressionswelle nach dem 15. Juli aus Angst vor Verfolgung ins Ausland abgesetzt hatten, ebenso wie all jenen vor allem Kurden und Linken, die bereits vorher ins Exil gegangen waren.
Das zweite Dekret verfügt die Entlassung von abermals Tausenden bisheriger Staatsbediensteter. Die am meisten betroffenen Berufsgruppen sind Polizisten, Verwaltungsbeamte und Wissenschaftler. Laut AFP betrifft es 8390 Staatsbedienstete, darunter 2687 Polizisten, 1699 Beamte des Justiz- und 838 des Gesundheitsministeriums; des weiteren 631 Hochschulangestellte und acht Mitglieder des Staatsrates. Damit verloren seit dem Putschversuch bereits über 100 000 Personen ihre Existenz oder wurden sogar verhaftet.
Unter den Polizisten trifft es erneut vor allem Angehörige der Gendarmerie. Sie untersteht bzw. unterstand bis zur Verhängung der Ausnahmezustandes der Armeeführung, also nicht der von Erdogan berufenen Regierung. Damit soll wohl mit Hilfe der von Erdogan vorangetriebenen Verfassungsänderungen ohnehin Schluss sein. Alle aufsteigenden Linien der Machtpyramide enden dann in einer Institution, dem Amt des Präsidenten, also Erdogan. Mit einem dritten Dekret wurden 83 Vereine wegen »Aktivitäten, die die Sicherheit des Staates bedrohen«, verboten.
Ab dem heutigen Montag sollen parlamentarische Gremien über die neue Verfassung beraten. Nachdem missliebige Abgeordnete unter fadenscheinigen Anschuldigungen verhaftet wurden, alle übrigen Erdogan-Kritiker wohl eingeschüchtert genug sind, um das Vorhaben zu verhindern, soll die Türkei laut Vorlage erstmals in ihrer Geschichte zur Präsidialrepublik werden. Einen Ministerpräsidenten hätte die Republik dann nicht mehr, alle Macht läge beim Präsidenten.
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