Kein Maß für Maas
Die Fußfessel als Allheilmittel? GPS-Signale zur Gefährderabwehr bringen neue Probleme hervor
Die Anordnung, eine Fußfessel zu tragen, ist in Deutschland bislang recht restriktiv geregelt. Die oder der Betreffende muss beispielsweise eine Haftstrafe vollständig verbüßt und mindestens drei Jahren abgesessen haben. Danach kann das Tragen einer Fußfessel angeordnet werden. Insbesondere dann, wenn die Verurteilung aufgrund schwerer Gewalt- oder Sexualdelikte erfolgte und ein Rückfall wahrscheinlich erscheint.
Aktuell betrifft das in Deutschland 88 Straftäter, die per GPS-Signal überwacht werden können. In einem Gesetzentwurf, den das Bundesjustizministerium jüngst erarbeitete, wird vorgeschlagen, die Überwachungsmöglichkeit auch bei Personen anzuwenden, die wegen Terrorstraftaten verurteilt wurden. Weniger nachvollziehbar ist, dass Minister Maas nun islamistische Gefährder, also nach juristischen Grundsätzen Unschuldige, einbeziehen will. Rechtfertigen die guten Erfahrungen mit Fußfesseln solche drastischen Eingriffe in Grundrechte?
Ende Juli 2016, Saint-Etienne-du-Rouvray, Nordfrankreich. Keine zwei Wochen waren seit dem Blutbad von Nizza vergangen. In der Normandie drangen zwei junge Männer in eine katholische Kirche ein und erstachen einen greisen Priester. Einer der beiden Täter war in Windeseile identifiziert. Kein Wunder, er trug eine Fußfessel. Die Behörden hatten gegen den 19-Jährigen ein Terrorverfahren eingeleitet. Zwei Mal wollte er nach Syrien in den Kampf ziehen. Aus der Türkei nach Frankreich überstellt, wurde ihm ein Ermittlungsverfahren wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung in Verbindung mit einem Terrorvorhaben zur Last gelegt. Aus der Untersuchungshaft kam er nur mit Fußfessel heraus. So konnte man seine Aufenthaltsorte nachvollziehen - bis zum Tatort Kirche.
Damals liefen in Frankreich gegen 285 Personen, die man in Deutschland Gefährder nennen würde, Terrorverfahren. Ganze sieben befanden sich mit Fußfessel in Freiheit. Die Anzahl war also überschaubar. Genützt hat das nichts. Und wie sind die Erfahrungen in Deutschland? Rafik Y., ein offenkundiger Psychopath, stach Ende September 2016 in Berlin-Spandau auf Passanten ein und verletzte eine Polizistin schwer. Der Mann stand nach Verbüßung einer achtjährigen Strafe wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung unter Führungsaufsicht und musste am Fuß einen Sender tragen. Den jedoch hatte er am Tattag entfernt. Folgenlos.
Im oberschwäbischen Ravensburg kam Ende 2013 eine 47-jährige Frau nach jahrelanger Haft und Sicherungsverwahrung frei - mit einer Fußfessel. Kurz darauf steckte sie erneut einen Supermarkt in Brand
Anfang 2013 musste sich ein 41-Jähriger vor dem Münchner Landgericht verantworten, weil er nach seiner Entlassung aus dem Strafvollzug 2011 ein siebenjähriges Mädchen missbraucht hatte. Die Fußfessel diente als ein Beweis, so wie an anderen Orten Kameras.
Natürlich kennen die hierzulande zuständigen Minister Thomas de Maizière (CDU) und Heiko Maas (SPD) solche Fälle, bei denen Fußfesselträger ungehindert zum kriminellen Zuge kamen. Ebenso sicher lassen sich auch Beispiele dafür finden, dass verordnete GPS-Sender hilfreich waren bei der Überwachung von potenziellen Straftätern. Daher sagt Oliver Malchow, Chef der Gewerkschaft der Polizei, eine Fußfessel »könnte« geeignet sein, die Lebensführung eines sogenannten Gefährders zu kontrollieren. Das setze allerdings voraus, dass dem Betroffenen Auflagen gemacht werden, »bestimmte Orte nicht zu verlassen beziehungsweise bestimmte Orte nicht aufzusuchen«.
Was also wäre passiert, wenn man dem Berliner Weihnachtsmarktattentäter Anis Amri eine Fußfessel angelegt und verboten hätte, sich Menschenansammlungen zu nähern? Dasselbe wie bei vermehrter Videoüberwachung. Nichts. Der präventive Nutzen beider Verfahren erschließt sich gerade bei zum Sterben entschlossenen Terroristen kaum. Zudem: Die Definition, wer Gefährder ist und wer nicht, ist länderspezifisch relativ willkürlich. Noch komplizierter ist es, zu bestimmen, welcher Gefährder gefährlich genug ist, um ihm eine elektronische Fessel anzulegen. Und welche Areale würde man auf die No-Go-Liste setzen? Weihnachtsmärkte, das Oktoberfest, Wasserwerke, Kinos, Flugplätze, Bahnhöfe ...? »Man kann einen Menschen wohl nicht davon abhalten, den öffentlichen Nahverkehr zu nutzen«, sagte Malchow, der sich auch nicht so recht vorstellen kann, wie eine Fußfessel Observationen ersetzen soll.
Und was passiert, wenn sich ein gefesselter Gefährder einem solchen Areal nähert? Die sogenannte 110-Einsatzreaktionszeit kann die Berliner Polizei auf die Schnelle nicht liefern. Die vergleichbaren Zeiten bei »Täter vor Ort«-Einsätzen in Nordrhein-Westfalen liegen zwischen 5 und 15 Minuten. Und auch das muss in Rechnung gestellt werden: Tübinger Wissenschaftler vom Institut für Kriminologie untersuchten im Auftrag des Bundesjustizministeriums den Nutzen der »elektronischen Aufenthaltsüberwachung« bei gefährlichen Straftätern. Sie raten zur Behutsamkeit. Nicht zur wegen des schweren Eingriffs in die Grundrechte. Sie verweisen auch auf »einen erheblichen Aufwand für die beteiligten Behörden«.
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