Die doppelt verdrängte Schuld

Israel auf der Couch - Moshe Zuckermann erklärt die Politik des jüdischen Staates psychoanalytisch

  • Sabine Kebir
  • Lesedauer: 4 Min.

Der israelische Soziologe, Historiker und Philosoph Moshe Zuckermann ist ein harter Kritiker der Politik seines Landes. Der Marxist meint, dass sich diese, von der Mehrheit der Israelis gebilligt, mit den heute gängigen Instrumentarien der politökonomischen Analyse nicht erschöpfend erklären lässt. Er plädiert dafür, zur Analyse der festgefahrenen Verhältnisse in Palästina die von Freud auf die Politik extrapolierte Psychoanalyse und den Freudo-Marxismus der Frankfurter Schule einzubeziehen.

Für Freud wie Marx waren die Begriffe Kultur und Zivilisation synonym. Für Freud zählte zu den Wesensmerkmalen einer Zivilisation nicht nur, wie die Menschen über den Versuch der Naturbeherrschung Güter zur »Triebbefriedigung« - bei Marx: zur »Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse« - herstellen, sondern auch das jeweilige System der gesellschaftlichen Beziehungen, wonach diese Güter verteilt werden - bei Marx der »Überbau«. Auch Freud hob hervor, dass in diesem System der einzelne Mensch selbst zur Ware werden könne. Vielen Lesern mag diese immerhin bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen Marx und Freud als Grundlage von Zuckermanns Vorgehen nicht genügen, die Blockierungen der israelischen Politik auch mit den Instrumenten zu erklären, die Freud und die Frankfurter Schule aus der Individualanalyse in die Gesellschaftsanalyse übertrugen. Aber es lohnt sich doch, Zuckermann zu folgen.

Dem Autor erklärt sich die Blockierung der israelischen Politik durch die Nichtverarbeitung zweier Traumata aus der Gründungszeit des Staates. Zum einen entsprachen die nach Israel kommenden Überlebenden der Shoa, die zugleich verschiedene Strömungen der zweitausendjährigen Diaspora verkörperten und sich angeblich wie Lämmer zur Schlachtbank hatten führen lassen, nicht dem aktivistischen Selbstbild der schon früher eingewanderten Zionisten. Das führte dazu, dass es jahrelang kaum zu öffentlichen Diskursen über sie und ihr durchlebtes Leid kam. Das Schweigen über die Shoa fand erst sein Ende, als sie sich im Zusammenhang mit den Wiedergutmachungsangeboten der Bundesrepublik zur Instrumentalisierung anbot. Zuckermann sieht die israelische Gesellschaft bis heute nachhaltig von der Verdrängung zweifacher Schuld gelähmt: Die eine besteht gegenüber den Diaspora-Juden, insbesondere den Shoa-Überlebenden, woraus der ungelöste ödipale Vatermord-Komplex herauslesbar sei. Jedoch war nur unter der Voraussetzung der Verdrängung des Diaspora-Erbes die Entrechtung und Vertreibung der Palästinenser überhaupt möglich. Die erste Schuldverdrängung bewirkt bis heute, dass das Leid, das die Israelis den Palästinensern antaten und antun, als solches nicht ins Bewusstsein dringt, im Unbewussten aber durchaus als eine weitere Schuld wahrgenommen wird. Beide Schuldkomplexe führen zur unaufhörlichen Produktion von Angst, deren Ausmaß weit über das hinausgeht, was die reale palästinensische Abwehr und Rache herausfordert.

Zuckermanns Ausführungen zur Rolle, die die Frankfurter Schule der modernen Kulturindustrie bei der Herausbildung des sado-masochistischen »autoritären Charakters« zuschrieb, implizieren, dass die Shoa bis heute von der israelischen Gesellschaft nicht wirklich betrauert und verarbeitet wurde, sondern zum massenkulturellen Holocaust-Produkt der Kulturindustrie verkommen sei. Die israelische Gesellschaft entfernte sich in geradezu antithetischer Abstoßung von dem großen weltgeschichtlichen Beitrag, den der aufgeklärte Teil der jüdischen Diaspora zum demokratischen Universalismus der Gleichberechtigung der Völker geleistet hat. Diesbezüglich zitiert Zuckermann den Wissenschaftshistoriker Yehuda Elkana, der 1988, nach dem Ausbruch der ersten Intifada, schrieb, dass »aus Auschwitz zwei Völker hervorgegangen« seien, »eine Minderheit, die behauptet: ›Es soll nie wieder passieren‹ und eine verschreckte, furchterfasste Mehrheit, die behauptet: ›Es soll nie wieder uns passieren‹«. Je länger die Selbstblockierung der Israelis andauert, desto gravierender sind die praktischen politischen Folgen. Eine Zweistaatenlösung mit der Perspektive einer späteren Konföderation ist für Zuckermann die einzig denkbare Lösung, wenn die Blockade des Gaza-Streifens und weit vorangeschrittene Besiedlung des Westjordanlands nicht zur Verewigung des Kriegs mit den Palästinensern führen soll. Aber käme es zur Zweistaatenlösung, bei der zumindest ein Großteil der Siedler ins Stammland zurückkehren müsste, könnte dort ein Bürgerkrieg ausbrechen. Denn der säkulare Jude sieht in den Siedlern immer noch den Diaspora-Juden, von dem er sich radikal unterscheiden und eben auch abstoßen möchte.

Der interessierte Leser sei darauf hingewiesen, dass 2003 das Buch des in den USA lehrenden Palästinensers Edward Said »Freud und das Nichteuropäische« auf Deutsch erschien, das sehr ähnliche Thesen vertritt.

Moshe Zuckermann: Freud und das Politische: Psychoanalyse, Emanzipation und Israel. Promedia, Wien 2016. 208 S., br., 19,90 €.

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