Schlechte Freunde, fehlende Helfer
Antifaschisten in Göttingen beklagen, dass die Polizei bei Angriffen durch Neonazis tatenlos zusieht
In Göttingen war man in den letzten Jahren von extrem rechten Auswüchsen weitgehend verschont geblieben. Seit Herbst 2015 versucht aber auch dort eine Gruppe organisierter Neonazis Fuß zu fassen. Unter dem Label »Freundeskreis Thüringen/Niedersachsen« meldet diese seitdem Kundgebungen und Demonstrationen in der niedersächsischen Universitätsstadt und nahen Umgebung an, in denen sie gegen vermeintliche »Asylbetrüger« und »linke Gutmenschen« hetzt.
Der Zulauf zu ihren Veranstaltungen ist bisher mehr als überschaubar. Selbst, als die Gruppe mit Unterstützung der NPD und bundesweiter Mobilisierung im vergangenen September zu einer Demonstration in die selbst ernannte Kampfstadt Göttingen einlud, fanden sich nicht einmal 80 ihrer Anhänger ein. Unter den Mitgliedern des »Freundeskreises« scheint sich über diese Entwicklung zunehmend Frust auszubreiten, der sich im November in einem gewalttätigen Überfall auf Nazigegner entlud. Antifaschisten haben die Ereignisse des Tages rekonstruiert und unter dem Namen »Agit 161« in einem Zeitungsprojekt veröffentlicht.
Am 12. November 2016 fand in Duderstadt, einer Kleinstadt nahe Göttingen, ein Aufmarsch des »Freundeskreises« statt, zu dem sich kaum mehr als ein Dutzend Neonazis einfanden. Darunter waren etwa Mario Messerschmidt, Vorstandsmitglied der extrem rechten Partei »Die Rechte« und 2008 nach Schüssen in einer Göttinger Table Dance-Bar zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, sowie Jens Wilke, einige Wochen zuvor Landratskandidat der NPD und Kopf des »Freundeskreises«, der zeitgleich eine Kundgebung in Göttingen angemeldet hat, die er noch in Duderstadt absagen musste.
Die Demonstrationsteilnehmer präsentierten sich in Reden und Auftreten von Beginn an höchst aggressiv, hinderten ein Kamerateam des NDR an ihrer Arbeit und bedrohten anwesende Antifaschisten mittels ihrer Soundanlage. Die anwesenden Polizeibeamten ließen dies größtenteils unkommentiert geschehen.
Nach dem Ende der Veranstaltung wurden einzelne Neonazis von der Polizei aus der Stadt geleitet, in einem Dorf bei Göttingen aber alleine gelassen. Fünf von ihnen beschlossen daraufhin offenbar in die nahe gelegene Stadt zu fahren, wo seit dem Vormittag zahlreiche Menschen gegen die angekündigte Kundgebung des »Freundeskreises« protestiert hatten. Das Auto, das noch in Duderstadt als Lautsprecherwagen genutzt worden war, tauchte in der Folge zweimal vor der Wohnung eines Göttinger Lokalpolitikers auf, wie die Gruppe »Agit 161« recherchiert hat.
Von den Insassen seien dabei wüste Beleidigungen und Drohungen in Richtung des Hauses ausgestoßen worden, die per Notruf alarmierte Polizei aber erst Stunden später erschienen. Pikanterweise gehört auch eine der zuvor in Duderstadt bedrohten Personen zur Familie des Politikers.
Wenig später wird das Auto am ursprünglichen Kundgebungsort erneut von Antifaschisten gesichtet. Als diese lautstark auf die Neonazis aufmerksam machten, seien die Insassen des Wagens unter den Augen der anwesenden Polizisten unvermittelt zum Angriff übergegangen, berichtet »Agit 161«. Dabei sollen unter anderem Schlagstöcke, Glasflaschen und eine Eisenkette zum Einsatz gekommen sein. Einer der Angreifer habe sogar ein Messer bei sich getragen, heißt es von den Antifaschisten. Auch in dieser Situation sei die Polizei geradezu untätig geblieben. Zwei Antifaschisten wurden bei dem Überfall zum Teil schwer verletzt.
Die Empörung über die Ereignisse des Tages sowie die fehlenden Interventionen der Polizeikräfte ist anschließend groß. Das Göttinger »Bündnis gegen Rechts« etwa skandalisiert in einer Erklärung das »fahrlässige, wenn nicht feindliche Verhalten der Polizei«. Diese verkündet einige Tage später, sie habe Strafverfahren gegen die Beteiligten eingeleitet. Aber nicht nur die Neonazis, auch die Opfer des Angriffs erhielten Anzeigen. Ob die Recherchen und neuesten Erkenntnisse der »Agit 16«‘ daran noch einmal etwas ändern können, muss angesichts der bisherigen Politik der Polizei zumindest bezweifelt werden.
Laut »Agit 161« laufen rund 80 Strafverfahren gegen Antifaschisten aus Göttingen und Umgebung. Schon in der vergangenen Woche fanden Prozesse vor dem Amtsgericht Duderstadt statt. Weitere sollen in den kommenden Wochen folgen. Die Göttinger Grünjugend erklärt dazu: »Diese Prozessflut ist ein Versuch, aktive Mitglieder der Zivilgesellschaft zu kriminalisieren und einzuschüchtern und sie von weiterem Engagement gegen Neonazis und Abschiebungen abzuhalten.« Insbesondere Polizei und Staatsanwaltschaft müssten sich fragen lassen, warum sie gerade den breit getragenen Protest des Duderstädter Bündnis gegen Rechts auf diese Weise drangsalieren. »Polizei und Staatsanwaltschaft rücken sich dadurch selbst in ein sehr fragwürdiges Lich.«, so ein Mitglied der Grünjugend.
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