Brandenburg: Asylfeindliche Aktionen lassen nach
Zum Jahresende 2016 hin zählten Demonstrationen und Kundgebungen weniger Teilnehmer
Auf das ganze Jahre gerechnet hat es 2016 in Brandenburg mit 100 asylfeindlichen und extrem rechten Demonstrationen ungefähr so viele gegeben wie 2015, als es 105 gewesen sind. Dies ist ein seit 1990 nie zuvor erreichtes Niveau. Das Moses-Mendelssohn-Zentrum (MMZ), das eine Statistik führt und am Mittwoch erstmals Untersuchungsergebnisse präsentierte, rechnete dabei Aufmärsche und Kundgebungen mit wenigstens 50 Teilnehmern. Auch kleinere Straßenaktionen mitgezählt, kommt das MMZ für 2016 auf 210 Veranstaltungen mit zusammen 17 300 Teilnehmern. 2015 waren es ebenfalls 210 Aktionen mit insgesamt 23 300 Teilnehmern. Zum Vergleich: In den Jahren 2004 bis 2014 hat es in Brandenburg jeweils nur vier bis elf einschlägige Aktionen gegeben.
Der Höhepunkt ist aber offenbar überschritten. »Alle lokalen Protestkampagnen hatten im Jahresverlauf mit nachlassendem Zulauf zu kämpfen«, heißt es. So seien in Bad Liebenwerda am Jahresanfang noch 300 Menschen zusammengekommen, am Jahresende nur noch wenige Dutzend. In Oranienburg sei die Zahl von Februar bis April von 675 auf 110 zurückgegangen, woraufhin die dortigen Abendspaziergänge dann eingestellt worden seien. In Rathenow sei mit 580 Personen im Januar der Spitzenwert erreicht worden, bei den letzten Kundgebungen seien dann nur noch etwa 30 Personen gekommen. Warum? Dies vermag Christoph Schulze, wissenschaftlicher Mitarbeiter des MMZ, nicht eindeutig auszumachen. Ein wichtiger Faktor dürfte sein, dass seit der Schließung der Balkanroute im März viel weniger Flüchtlinge in Deutschland ankommen, schreibt er in einer Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse. Auch Demonstrationsmüdigkeit könnte eine Rolle spielen und die Tatsache, dass die erkennbare Anwesenheit von Neonazis bei den Veranstaltungen »abschreckend« wirkte. Ein Grund könne auch sein, dass viele Menschen erlebten, dass mit dem Flüchtlingsheim in ihrer Nachbarschaft nicht die Welt untergegangen sei, erklärt Schulze.
- Geführt wird die Statistik der asylfeindlichen Straßenaktionen und Internetseiten von der Erich-Gumbel-Forschungsstelle des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien.
- Ermöglicht wurde die Arbeit der Forschungsstelle 2016 durch zusätzliche Mittel des Landes Brandenburg.
- Namensgeber Erich Gumbel (1891-1966) war ein Mathematiker und Pazifist, der in der Weimarer Republik früh vor der heraufziehenden Gefahr des Faschismus warnte. 1933 sind seine Werke bei den Bücherverbrennungen ins Feuer geworfen worden.
- 2016 gab es 92 asylfeindliche Straßenaktionen und nur acht mit anderen klassisch rechten Themen, darunter der traditionelle Versuch der NPD in Cottbus, den Jahrestag des verheerenden Bombenangriffs auf die Stadt im Zweiten Weltkrieg propagandistisch auszuschlachten.
- Allein je 16 Aktionen hat es in den Landkreisen Havelland und Elbe-Elster gegeben, gefolgt von Potsdam mit zwölf. af
Die Forscher rechnen allerdings damit, dass mit dem Näherrücken der Bundestagswahl am 24. September die Zahl der Proteste gegen Flüchtlinge wieder zunimmt.
Am erfolgreichsten seien 2016 die 55 Straßenaktionen von verschiedenen Bürgerinitiativen gewesen, die zwar oft von der NPD beeinflusst waren, sich aber als parteiübergreifend und als demokratisch eingestellt zu präsentieren versuchten. Nur sechs Aktionen sind ganz offen von Neonazis - beispielsweise aus der NPD heraus - organisiert worden. 19 Aktionen gingen auf das Konto von Zusammenschlüssen, die zwar Spielräume für rechtsextremes und rassistisches Gedankengut ließen, die jedoch zumindest nicht nachweislich von solchen Positionen geprägt waren. Überdies richtete die AfD 20 Aktionen aus.
Zur Mobilisierung dienten 99 Facebookseiten, auf denen asylkritische Nachrichten verbreitet, teils gefälscht und emotional kommentiert worden sind. Auf zusammen 84 000 Sympathiebekundungen, sogenannte Likes, kommen diese Seiten. 52 Seiten bezeichnet das MMZ als weiterhin aktiv, weil der letzte Eintrag nicht länger als einen Monat zurückliegt. Die Seiten sind im zweiten und dritten Quartal 2015 sowie im ersten Quartal 2016 am intensivsten bespielt worden und hatten viel Resonanz. Seitdem geht die Zahl der Reaktionen auf neue Einträge kontinuierlich zurück.
Gideon Botsch vom MMZ beobachtete, dass im Internet zunehmend auch die als »Lügenpresse« verleumdeten Medien als Quelle herangezogen werden. Die Rezeption finde nicht selten nach dem Motto statt: »Sogar die Lügenpresse muss das zugeben.« Dabei werde Genugtuung darüber laut, dass die eigenen Positionen in etablierte Strukturen eindringen konnten und sie zu einem bestimmten Teil mitprägen. Daneben gebe es aber die Strömungen der Fundamentalopposition, denen das gar nicht recht sei, weil sie vom Kampf gegen die Asylpolitik zum Kampf gegen das politische System als solches übergehen wollen.
Nicht nachgelassen hat die rechte Gewalt, die 2015 mit 203 registrierten Übergriffen eine Steigerung von 120 Prozent erfuhr und wo ein Rückgang nach Übersicht des MMZ im Jahr 2016 nicht zu verzeichnen ist. Auch habe sich der Ton bei den Straßenaktionen und im Internet verschärft. Dort werden nun auch unverblümt altbekannte Neonaziparolen und Verschwörungstheorien wie die von der angeblich beabsichtigen Umvolkung und vom vermeintlich drohenden Volkstod zum Besten gegeben.
MMZ-Leiter Julius Schoeps erklärte, er sei als Kind Flüchtling in Schweden gewesen und von der Bundespolitik »enttäuscht«, dass diese zurückruderte. Er habe Kanzlerin Angela Merkel (CDU) für ihre vorherige Haltung in der Flüchtlingsfrage bewundert. Der abgelöste US-Präsident Barack Obama hatte die inzwischen geänderte Asylpolitik Deutschlands auch gelobt, aber selbst nichts dafür getan, dass die USA ebenfalls syrische Bürgerkriegsflüchtlinge aufnimmt. Dazu sagte Schoeps: »Das wundert mich auch.«
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