Europaweites Erinnern an die Opfer des Holocaust
»Euthanasie«-Morde im Zentrum der Feierstunde im Bundestag / Präsident des Zentralrats der Juden: Alle Schüler sollen KZ-Gedenkstätte besuchen
Berlin. Mit zahlreichen Veranstaltungen in Deutschland und Europa wird an diesem Freitag der Opfer der nationalsozialistischen Massenmorde gedacht. Auf dem Gelände des ehemaligen deutschen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau versammeln sich Überlebende des Konzentrationslagers, das am 27. Januar 1945 von Soldaten der Roten Armee befreit worden war. Unter der Herrschaft der Nazis waren dort mindestens 1,1 Millionen Menschen vergast, zu Tode geprügelt oder erschossen worden, oder an Krankheiten und Hunger gestorben.
Im Bundestag wurde am Morgen in einer Gedenkstunde der Millionen Opfer des Nazi-Regimes gedacht. Im Mittelpunkt standen in diesem Jahr die Opfer der »Euthanasie«-Morde. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) kritisierte in seiner Ansprache, dass die Aufarbeitung dieser Morde an Kranken und Behinderten lange Zeit nicht stattgefunden habe und forderte dazu auf, sich mit dem Schicksal der Opfer zu befassen. »Erst Einzelschicksale lassen erkennen, was unschuldigen Menschen angetan wurde«, sagte Lammert.
»Wir gedenken in diesem Jahr besonders der Kranken, Hilflosen und aus Sicht der NS-Machthaber ›Lebensunwerten‹, die im sogenannten Euthanasie-Programm ermordet wurden«, so Lammert. »300.000 Menschen, die meisten zuvor zwangssterilisiert und auf andere Weise gequält.«
Ein Aufbegehren gegen die systematische Tötung der als »lebensunwert« verunglimpften Kranken und Beeinträchtigten habe es wenig gegeben, sagte Lammert. Viele hätten sich damals uneingestanden zum Komplizen dieser Verbrechen gemacht. Die »Euthanasie« hätte den hippokratischen Eid, der Ärzte zur Hilfe und Erhaltung von Leben verpflichtet, pervertiert, sagte Lammert. Man frage sich, was hätte verhindert werden können, »wenn mehr Menschen aufbegehrt und zu ihren ethischen Prinzipien gestanden hätten«, sagte er.
»Zwischen ›Euthanasie‹ und dem Völkermord an den europäischen Juden bestand ein enger Zusammenhang«, betonte Lammert. »Als ›Probelauf zum Holocaust› gilt das Töten durch Gas, das zuerst bei den ‚Euthanasie‹-Opfern praktiziert und damit zum Muster für den späteren Massenmord in den NS-Vernichtungslagern wurde.«
Der Schauspieler Sebastian Ubanski lies vor dem Parlament einen 1943 von Ernst Putzki verfassten Brief vor. Darin beschrieb Putzki die Zustände in der hessischen Landesheilanstalt Weilmünster, in die er wegen »Geisteskrankheit« eingewiesen worden war. Urbanski arbeitet als Schauspieler im Berliner Theater Rambazamba, dessen Ensemble komplett aus Menschen mit Behinderung besteht. Es ist das erste Mal in der Geschichte des Bundestags, dass ein geistig Behinderter eine Rede hält.
An der Gedenkstunde des Parlaments nimmt auch Bundespräsident Joachim Gauck teil. Seit 1996 wird auf Anregung des damaligen Staatsoberhaupts Roman Herzog am 27. Januar, dem Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, in Deutschland der NS-Opfer gedacht. 2005 riefen die Vereinten Nationen diesen Tag zum internationalen Holocaust-Gedenktag aus.
Auch in zahlreichen Landtagen wurde dem Holocaust gedacht. Der Bayerische Landtag ist zu Gast bei der Gedenkfeier im Senat in Prag, der zweiten Kammer des tschechischen Parlaments. Anschließend werden am ehemaligen Krematorium in Leitmeritz Kränze niedergelegt. In dem Außenlager des oberpfälzischen KZ Flossenbürg starben mehr als 4500 Menschen. Zum Abschluss erinnern Politiker und ein Zeitzeuge im ehemaligen Ghetto Theresienstadt an den deutschen Mord an den Juden Europas.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier erklärte am letzten Tag seiner Amtszeit: »Wir können, was geschehen ist, nicht ändern oder rückgängig machen. Uns ist aber Auftrag und Verpflichtung die Erinnerung an den Zivilisationsbruch der Shoah, das Gedenken an die Opfer und die Verantwortung, die uns heute daraus erwächst.« In einer Welt, »die uns unsicher, ruhelos und ungeordnet vorkommen mag«, sei die Geschichte Lehre, Mahnung und Ansporn zugleich - »das Erinnern hat kein Ende und darf es auch nicht haben«.
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, hat anlässlich der Gedenktags dafür plädiert, dass möglichst alle Schüler mindestens einmal eine KZ-Gedenkstätte besuchen sollten. Das sei etwas anderes, als darüber nur im Schulunterricht zu lesen oder zu hören, sagte Schuster den »Ruhr Nachrichten«. »Jede Schulklasse sollte mindestens einmal eine KZ-Gedenkstätte besucht haben.«
Schuster forderte Bund und Länder auf, die dafür notwendigen Finanzmittel bereitzustellen. Er mahnte grundsätzlich, die Erinnerung an den Holocaust nicht nur am Gedenktag am 27. Januar wachzuhalten. »Wir müssen das Thema in der gesamten Gesellschaft wachhalten«, sagte der Zentralratspräsident. Das gelte besonders für Schulen und Universitäten sowie für die Ausbildung von Lehrern, Juristen und Polizisten. nd/Agenturen
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