Für immer schulfrei
Viele Kinder und Jugendliche verweigern in Deutschland die Schule. Drei Besuche bei denen, die trotzdem lernen
Der Gang ist stockdunkel. Plötzlich schießen grüne Laserstrahlen aus den Löchern in den Wänden. Eine große Uhr mit roten, digitalen Ziffern zählt die Sekunden rückwärts. 30, 29, 28. Elias konzentriert sich. Der Zwölfjährige hebt ein Bein und manövriert seinen weißen Turnschuh vorsichtig über einen Strahl. 27, 26, 25. Er legt sich hin und kriecht unter einem anderen hindurch. Gleich hat er es geschafft.
Es ist ein kalter Januartag in Berlin, Montag 11 Uhr, ein Schultag. Doch Elias ist nicht in der Schule, er ist im Spionage-Museum. Er ist nicht krank. Er ist auch nicht beurlaubt. Er geht ganz einfach nicht zur Schule. Und das seit über einem Jahr.
So wie Elias, der im wahren Leben anders heißt, weigern sich in Deutschland viele Kinder und Jugendliche, zur Schule zu gehen. Die Zahl 300.000 kursiert, doch genau sagen kann es niemand. »Alle Zahlen sind Spekulation«, sagt Karlheinz Thimm, Professor für Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Berlin. »Es ist auch eine Frage der Definition, mit dem Problem von Hell- und Dunkelfeld.« Jugendliche und Eltern verschleierten Gründe fürs Fernbleiben, Bundesländer erfassten die Fehlzeiten nicht einheitlich.
Berlin hat seine Zahlen Anfang Januar veröffentlicht, es war kein Anlass zu Beruhigung: 933 Schüler hatten im zweiten Schulhalbjahr 2015/16 mehr als 40 Tage unentschuldigt gefehlt. Trotzt Präventionsprogrammen der Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) waren die Zahlen sogar gestiegen: 2014/15 waren es noch 898 Schulverweigerer. Die meisten Berliner Bezirke, so wurde gleichzeitig bekannt, verzichteten auf harte Strafen - wie Bußgelder zu verhängen oder die Polizei zu rufen. Innerhalb der SPD, vor allem aber bei den Oppositionsparteien CDU, FDP und AfD, entspann sich eine Debatte, ob Schulverweigerer nicht härter bestraft werden müssten.
Der Freilerner
Der Hindernislauf mit Laserstrahlen dient laut Museum als »ultimatives Agententraining: Sie müssen unbemerkt an den Laserstrahlen vorbeikommen«. Unbemerkt vorbeikommen müssen auch die Kinder, die davor stehen, sie sind zwölf, zehn, acht und sieben Jahre alt. Ihre Mütter haben sich über Facebook kennengelernt, denn was ihre Kinder tun, ist in Deutschland illegal: Sie verweigern die Schulpflicht.
Sie selbst nennen sich Freilerner, denn in ihren Augen sind es nicht sie, die etwas falsch machen, sondern der Staat. Elias erinnert sich noch genau an den Tag, als seine Mutter gesagt hat, dass sie ihn nicht mehr zwingen wird, zur Schule zu gehen. »Das war am 27. Oktober 2015.« Warum er das Datum noch so genau weiß? »Das war wie mein Geburtstag.«
Dabei waren er und seine Mutter nicht gegen Schule. Im Gegenteil. Seine Mutter, die ihren Namen ebenfalls nicht in der Zeitung lesen will, sagt: »Vor fünf Jahren fand ich es noch unvorstellbar, dass mein Kind nicht zur Schule geht. Selbst alternative Schulen hab ich abgelehnt, weil ich dachte, mein Kind lernt da nichts.«
Zwischen damals und jetzt liegt ein langer Weg. »Es fing damit an, dass er keine Hausaufgaben machen wollte«, sagt die Mutter. »Er hat gesagt, dass er das schon kann und es ihn langweilt.« Irgendwann fehlte Elias jede Woche drei Tage, solange es eben ohne Krankschreibung geht.
In der fünften Klasse kam er auf eine Gemeinschaftsschule. Statt die Nachmittagsaktivitäten mitzumachen, traf er sich lieber mit seinen Kumpels. Oft hat er in der Klasse zu husten begonnen. Elias hält sich eine Faust vor den Mund und röchelt künstlich. »Mir war klar, dass er nicht wirklich krank ist«, sagt die Mutter. Inzwischen hat sie ihren Halbtagsjob aufgegeben. Stattdessen ist sie mit ihren beiden Söhnen unterwegs. Auf der Suche nach Gleichgesinnten ist sie im Internet fündig geworden, bei Vereinen wie der Freilerner Solidargemeinschaft, dem Bundesverband Natürliches lernen und der Schulfrei-Bewegung. Auch eine Bildungsplattform im Internet findet sie, mit der Elias lernt.
Schätzungen nach gibt es in Deutschland rund 1000 Kinder, die sich zusammen mit den Eltern dafür entscheiden, jenseits des Staates zu lernen. Mit Hausunterricht, aber auch mit »Deschooling«, »Unschooling« und »Worldschooling«, die das staatliche Schulsystem nicht nachahmen, sondern ablehnen. Dazu gehört auch Elias› Gruppe. Den Gang ins Spionage-Museum haben die Mütter nicht vor- oder nachbereitet. »Das wollen die Kinder auch gar nicht«, sagt eine der Drei. »Wir gucken, was wir draus lernen«, sagt Elias.
Richard Krutisch ist Gründer der Schulfrei-Bewegung mit Sitz in Karlsruhe. Er sagt, 90 Prozent der Freilerner hätten einen langen Leidensweg der Schulverweigerung hinter sich. »Die meisten Eltern wollen nicht, dass ihre Kinder in Integrationsmaßnahmen kommen. Die funktionieren nur über die Drohkulisse Gefängnis.« Denn um die Schulpflicht durchzusetzen, kann der Staat mit Geldbußen, Freiheitsstrafen und sogar Sorgerechtsentzug drohen. »Die Wirklichkeit vor Gericht ist eine andere«, sagt Krutisch. »Man kann nicht einfach Kinder aus den Familien nehmen.« Die Gerichtsprozesse gingen immer zu ihren Gunsten aus.
Der Beurlaubte
Kinder wie Elias, die aus einer bildungsbürgerlichen Schicht kommen, sind beim Projekt »Move« selten anzutreffen. »Vor 20 Jahren waren noch mehr Straßenkinder hier mit Hunden und wüsten Geschichten«, sagt Bernd Kunckel, der fast seit Beginn im Projekt der Jugendhilfe arbeitet. Inzwischen hat sich die Klientel gewandelt. Zwar kommen immer noch mehrheitlich Kinder und Jugendliche, die »durch alle Raster gefallen sind«. Jetzt aber hätten sie häufig Fluchterfahrungen, sind aus den Willkommensklassen gefallen. Auch die zunehmende Verarmung spielt eine Rolle. Schwierige Familienverhältnisse, Verhaltensauffälligkeiten bis hin zu Persönlichkeitsstörungen und Mobbing seien weitere Gründe für den verpassten Unterricht. »Schulverweigerung ist oft nur die Spitze des Eisbergs. Wenn es keine Schulpflicht gäbe, würde sich kein Mensch um diese Jugendlichen kümmern«, sagt der Lehrer und Sozialarbeiter Kunckel. Der Tag beginnt hier im Wedding mit einem gemeinsamen Frühstück, in Fünfergruppen lernen die Jugendlichen Kernfächer wie Mathematik und Deutsch. Nach einem gemeinsamen Mittagessen geht es am Nachmittag handwerklich zu. Voraussetzung für die Teilnahme ist, dass sich die Schulverweigerer von der Schule haben beurlauben lassen.
Einer von ihnen ist Can. Der 15-Jährige steht in der Siebdruckwerkstatt des alten Fabrikgebäudes. Gerade hat er einem Sozialarbeiter seine Siebdruckvorlage überreicht - er hat die Initialen eines Berliner Rappers gezeichnet. Hier können die Jugendlichen fürs Leben lernen, sagt Kunckel: »Ein Schritt nach dem nächsten.« Can übersetzt: »Man kann nicht drucken, wenn man keine Vorlage hat.«
Über sich selbst sagt Can, er sei ein Problemkind gewesen »mit Lehrer schlagen und alles«. Dreieinhalb Jahre sei er nicht zur Schule gegangen. Das Projekt »Move« habe seine damalige Pflegemutter im Internet gefunden. Auch er weiß genau, seit wann er hier ist: »25. Januar 2016.« Warum er das so genau weiß? »Das war der unwichtigste Tag meines Lebens«, sagt er und lacht.
Im Mai will er die Berufsbildungsreife machen. Und dann? »Entweder ich mach‹ Studium oder Gerüstbau«, sagt er. »Da kriegt man 18,50 Euro die Stunde.« Wie Can erlangen hier zwei Drittel einen Abschluss und fangen dann eine Ausbildung an, statt wieder zur Schule zu gehen, wie es das eigentliche Ziel der Maßnahme ist. »Nach meiner Erfahrung funktioniert die Reintegration nicht«, sagt Kunckel. Denn außer bei der Einschulung müssen Schulen Kinder nicht aufnehmen, und »Problemkinder« erst recht nicht.
Die Praktikantin
Die 16-jährige Josephine hat einen Schulplatz gefunden: ihren alten. Mit fünf anderen Jugendlichen sitzt sie in einem Klassenzimmer der Hufelandschule in Buch. Der triste Containerbau liegt ein wenig hinter dem Hauptgebäude. Dass sie noch hier sitzt, ist der Bildungsform »Produktives Lernen« (PL) zu verdanken. Diese Unterrichtsform wurde vor 20 Jahren in Berlin entwickelt, um Jugendliche im Unterricht zu halten.
Josephine ist heute das einzige Mädchen in der Zehntklässler-Gruppe, eine der wenigen Mädchen überhaupt, die die Schule verweigern. Lehrer Lutz Hersch sagt: »Mädchen schaffen es eher, sich durchzuwurschteln.« Josephine kann das bestätigen: »Früher war ich ruhiger, ich hab einfach nicht mitgemacht.« Als sie vom Produktiven Lernen hörte, wollte sie wechseln. »Ich wollte nicht mehr neun Stunden in der Schule sitzen.«
Josephines Lehrerin war dagegen: »Unsere Klasse war sehr leistungsstark. Die Lehrerin wollte nicht einsehen, dass ich ›PL‹ bin.« Auch von Klassenkameraden kamen negative Reaktionen: »Die sagen: ›Die Assis.‹«
Über die Forderung der Politiker, Schulverweigerer mit der Polizei in die Schule zu bringen, kann Josephine nur lachen. Auch in ihrer Klasse sitzt eigentlich ein Mädchen, das nicht mehr kommt. »Die hätte schon längst von der Polizei geholt werden können«, sagt Josephine. »Aber das interessiert die nicht.«
Produktiv lernen heißt, drei Tagen die Woche in wechselnden Praktika zu erfahren, was ein geeigneter Beruf sein könnte. Josephine wollte Erzieherin werden. Im Praktikum lernte sie: »Kita kann sehr anstrengend sein. Auf Dauer tut mir da nur der Kopf weh.« Jetzt macht sie ein Praktikum als Sportassistentin in einem Verein. In ihren Ordner hat sie ein Foto eingeklebt, wo sie lachend Kindern beim Sprung über den Bock hilft.
Lehrer Hersch ist einer, der sich mit ungeraden Lebensläufen auskennt: Er war DJ, Taxifahrer und Zahntechniker, bevor er als Quereinsteiger Lehrer wurde. Seit zehn Jahren arbeitet er an der Hufelandschule. Die Lernform, die als Schulversuch begann, ist heute an 25 Schulen regulär etabliert. Auch hier verlassen zwei Drittel der Jugendlichen die Schule mit einem Abschluss.
Hersch sagt, dass Lehrer bei ihm oft die Schüler abladen, mit denen sie nicht zurecht kommen, und nicht die, die dieser Ansatz wirklich nach vorne bringt. Es helfe nicht, dass nun alle das gleiche lernen sollen, obwohl sie unterschiedliche Voraussetzungen hätten. »Die Schulreform hat das Gegenteil der Inklusion zur Folge.«
Zwei, eins, null. Der Countdown der Digitaluhr ist abgelaufen. Elias hat die Agentenprüfung bestanden. Viel Zeit ist nicht mehr, denn nach dem Museumsbesuch muss er zum Gericht. Dort wird er seinem Vater gegenüberstehen, der von der Mutter getrennt lebt und ebenso sorgeberechtigt ist. »Der findet das alles nicht so toll«, sagt Elias. Dabei würde er gern auf eine Freie Schule gehen. Neulich hat er eine besucht. Er hat auch eine Idee, was er dort machen will: Einen weißen Turnschuh designen, mit LED-Licht und dem Schullogo drauf.
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