Den freien Willen gibt es nicht

Friedrich Dieckmann setzt sich in »Luther im Spiegel« mit der Janusköpfigkeit des Reformators auseinander

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Von Thomas Mann weiß Katja Mann in »Meine ungeschriebenen Memoiren« zu berichten, dass er sich an seinem Lebensende mit dem Gedanken trug, ein Theaterstück mit dem Titel »Luthers Hochzeit« zu schreiben. Er kam nicht über die Vorstudien hinaus. Thomas Manns letztes Werk sollte Luther gelten, den er ausdrücklich nicht liebte?

Das mag nur denjenigen verwundern, der Thomas Manns Vortrag »Goethe, ein deutsches Wunder« nicht kennt, den er 1949 in Stockholm hielt. Darin ging es um die »drei Gewaltigen« deutscher Sprache: Luther, Goethe und Bismarck. Mit Luthers Bibelübersetzung nimmt die deutsche Literatur ihren großformatigen Anfang, in Hoch- und Volkssprache gleichermaßen. Der Reformator ist für Thomas Mann aus lauter starken Gegensätzen gemacht - und eben darin erkennt er das, was er das »deutsche Wesen« nennt. Dieses ist für ihn - er spricht dabei aus eigener Erfahrung seiner nationalkonservativen Publizistik während des Ersten Weltkriegs - kein der Demokratie zuneigendes. Mehr als drei Jahrzehnte später nennt der Exilant Thomas Mann Luther »tief beseelt«. Er sei »klobig und zart«, »sinnlich und sinnig«, im Ganzen: »revolutionär und reaktionär« zugleich, ein »widerborstiger Orthodoxer, der aus der Kirche nur austritt, um eine Gegenkirche zu gründen«. Ihm sei der Humanismus völlig fremd gewesen, er sei ebenso »antieuropäisch« wie »tief musikalisch« gewesen.

Lauter wunderbare Stichworte über das Deutsche und das Europäische, um über den dem Protestantismus innewohnenden Widerspruch nachzudenken, ein antiinstitutionelles Prinzip und lutheranische Gegenkirche gleichermaßen sein zu wollen. Für Friedrich Dieckmann beginnt mit diesem Widerspruch eine Reise durch die Geistesgeschichte, die sich an Luther abarbeitet, vor allem auch an seinem tief problematischen Deutschtum. Was wuchs daraus? Ebenso poetische Blüten wie eine Abfolge mörderischer Kriege.

Luther, so darf man wohl sagen, brachte mit seiner großen Glaubenserneuerungsidee das Europa des 16. und 17. Jahrhunderts an den Rand des Abgrunds. Ein notwendiger Tribut an den Fortschritt? Lesen wir nach in den wunderbar bildsamen Betrachtungen »Luther im Spiegel«. Es ist ein Bogenschlag von Lessing, Goethe, Heine, Hegel, Marx und Nietzsche bis zu Thomas Mann. Und immer wieder fragen sich die Arbeiter am Sprachleib der Deutschen durch die Jahrhunderte unisono: Wie hältst du es mit Luther?

Keine Frage, die einfache Antworten erwartet. Denn es geht eben nicht um Parteinahme. Jedoch immer um die Frage, wie sich die Reformation als Emanzipationsgeschichte, als ein Fortschreiten im Bewusstsein zunehmender Freiheit, im Werk des Einzelnen niederschlägt. Eine überaus spannende Entdeckungsreise, die für Dieckmann sogar dazu führt, in Heinrich Heine wie in Lessing Lutheraner zu erkennen. Heine, der große Spötter? Harry Heine, auf der Flucht vor den engen Verhältnissen der jüdischen Gemeinde Hamburgs, lässt sich taufen, zuerst ein Schritt aus purem Pragmatismus, dann aber findet er als getaufter Heinrich zu einer Position des freigeistigen Universalismus, die durchaus protestantisch (geradezu atheistisch) scheint, wie Dieckmann anhand von Passagen von Heines »Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland« demonstriert.

Marx hat die Komplexität der Aufgabe, wie sie Luther mit der Reformation gestellt hat, wohl am genauesten ausgedrückt: »Deutschlands revolutionäre Vergangenheit ist nämlich theoretisch, es ist die Reformation. Wie damals der Mönch, so ist es jetzt der Philosoph, in dessen Hirn die Revolution beginnt.« Mit Luther, so Marx, sei der Glaube an die Autorität der Kirche gebrochen worden, weil er die Autorität des Glaubens restauriert habe: »Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat.« Das sei nicht genug, so Marx sinngemäß, aber immerhin ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Emanzipation des Volkes.

Der Anstoß für dieses Kaleidoskop über Luther und die Folgen, das nun als Buch vorliegt, kam für Friedrich Dieckmann übrigens von Friedrich Schorlemmer, mit dem er sich über mehrere Jahre hinweg immer wieder traf, um öffentlich über die Wirkungsgeschichte Luthers zu debattieren. Aus der Begegnung des Theologen mit dem an Hegel und Marx geschulten Publizisten erwuchsen dann so unerwartet aufschlussreiche Exkurse wie der zu Luther als Ökonom.

Aber man weiß, wie eng in der Person Luthers Fortschritt und Reaktion beieinanderliegen. Wie übel er den universalistischen Humanisten Erasmus von Rotterdam beschimpfte! Goethe, der aufgeklärte Pantheist, wusste früh, dass sich jeder selbst nach Belieben eine Religion (oder auch keine) suchen sollte.

Luther war ein abergläubischer Mensch, er glaubte an Hexen und schwarze Magie. Er kämpfte buchstäblich vis á vis mit dem Teufel! Hätte er nicht diese Aufhellung mit der Bibelübersetzung gebracht, man könnte ihn für einen fanatischen Finsterling halten. Zudem für einen Machtpolitiker, der der Institution Kirche das antiinstitutionelle protestantische Prinzip der Glaubensunmittelbarkeit opfert. Dieckmann öffnet den Raum für einen geistesgeschichtlichen Diskurs ersten Ranges: Was wird aus der Idee, die sich der ideologieproduzierenden Institutionalisierung verweigert? Eine echte, also nicht leicht zu beantwortende Frage. Vielleicht kann man so antworten: Sie bliebe ebenso rein wie wirkungslos. Luthers Größe ist zugleich das, was ihn angreifbar macht: sein Schritt in die politische Praxis.

Über sein Nietzsche-Bild möchte man mit Dieckmann streiten. Für ihn ist dieser ein »ekstatisch verglühender Kleinbürger«, der keine Ahnung davon gehabt habe, »wie das Jahrhundert, das nach ihm kam, am Cäsaren-Wahn entchristlichter Ideologen kranken werde«. Nun ja, Nietzsches Religionskritik, möchte man hier mit allem Respekt erwidern, ist durchaus auf der Höhe von Ludwig Feuerbach, Marx und den Junghegelianern. Sie geht sogar noch einen Schritt darüber hinaus, erkennt die Fatalität einer gottlosen Welt.

Es lohnt sich hier den an Schiller und Wagner gebildeten Geist über den Naumburger Pfarrerssohn zu hören, der alle guten Argumente Nietzsches selbst zu Gehör bringt (die an den Klassikern geschulte Fairness der Debatte gebietet es) und sie dann zurückweist. Nietzsche hatte geschrieben, ein deutscher Mönch, Luther, sei nach Rom gekommen, um sich gegen die Renaissance (die für Nietzsche so herrliche) zu empören. Gegen die Verweltlichung der Renaissance wollte Luther die wahre Kirche stellen, seine Kirche, ohne Glanz und Schmuck. Für Nietzsche eine Katastrophe. Der Stilist der Ausrufezeichen hat etwas Angreifendes, gewiss, aber hat er denn unrecht, wenn er schreibt: »Im Grunde gab es nur einen Christen, und der starb am Kreuz. Das Evangelium starb am Kreuz. Was von diesem Augenblick an ›Evangelium‹ heißt, war bereits der Gegensatz dessen, was er gelebt... Das Christentum ist eine Praxis, keine Glaubenslehre. Es sagt uns, wie wir handeln, nicht, was wir glauben sollen.«

Diesen Dissens in Sachen Nietzsche kann wohl nur einer schlichten: Goethe. Der sah Luthers Bedeutung, aber liebte ihn ebenso wenig wie Thomas Mann hundertfünfzig Jahre später ihn liebte. Beide verehrten den maßvollen Humanisten Erasmus von Rotterdam. Aber dennoch, sie sahen beide das Problem, in das sich Luther verstrickt hatte. Die protestantische Revolution hatte den Einzelnen aus dem bis dahin mittelalterlichen Ordo herausgebrochen, ihn in eine Freiheit geworfen, der er sich erst noch gewachsen erweisen musste.

Ähnlich wie Goethes Zauberlehrling befällt nun wohl Luther die Furcht vor dem, was er da an Kräften entfesselt hat. Sein Wille, die Institution Kirche zu retten, erwächst aus dieser Verunsicherung. Den freien Willen gibt es nicht, schleudert er seinem kultivierten Rivalen Erasmus entgegen. Luthers Erbe, das lernen wir an Dieckmanns dialektischer Meisterleistung, sind sowohl freie Christenmenschen als auch Untertanen. Beide sind sie mit seinem Namen schicksalhaft verknüpft. Mache einer was draus!, könnte man mit Thomas Mann sagen.

Friedrich Dieckmann: Luther im Spiegel. Von Lessing bis Thomas Mann. Quintus Verlag, 264 S., 22 €.

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