Said Kürükaya, der Märtyrer von Mossul

Irakische Armee und Kurden sind in der Offensive, doch was sie besetzen, ist häufig genug eine tote Infrastruktur

  • Thomas Fritz
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Räumkommandos gehen einer lebensgefährlichen Aufgabe nach. Ein Kämpfer der kurdischen Peschmerga transportiert eine Sprengfalle wie mit Samthandschuhen vorsichtig aus einem Haus im Osten Mossuls. Mit konzentriertem Blick hockt er über der Konstruktion wie über einem Modellbau-Set. Der Spezialist für Minen- und Sprengfallenentschärfung versucht mit einfachen Mitteln, seine gefährliche Arbeit zu erledigen: eine simple, kleine Kneifzange, etwas Isolierband und ein Feuerzeug.

Zwei Soldaten stehen leicht versetzt neben ihm, die Anspannung ist bei allen Beteiligten zu spüren. Ein falscher Handgriff und die Männer werden schwer verletzt - oder sogar in den Tod gerissen. Endlich ist es geschafft, die Sprengvorrichtung ist entschärft. Die wenigen Minuten, die die Operation gedauert hat, sind wie in Zeitlupe vergangen.

Die irakische Armee hat mit ihren Verbündeten den Ostens Mossuls schon befreit - aber die Arbeit ist noch lange nicht erledigt. Häuser müssen wieder aufgebaut, Stromleitungen erneuert, Wasserrohre repariert werden. Bevor all das beginnen kann, sind die Räumkommandos gefragt. Der sogenannte Islamische Staat (IS) hat Tausende Sprengfallen und Minen versteckt. Selbst das Öffnen eines Küchenschranks kann tödliche Konsequenzen haben.

Während die Spezialisten in den befreiten Teilen der Stadt ihr Handwerk verrichten, bereiten sich die Armee und ihre Verbündeten auf den Angriff auf die verbliebenen IS-Stellungen im Westen Mossuls und auf die Überquerung des Tigris vor. Auf ihrem Weg stoßen sie immer wieder auf Massengräber. Wie im Vorort Hamam Ali, in dem der IS 200 Zivilisten ermordet haben soll.

Mehrere verlustreiche Wochen in einem harten Abnutzungskampf liegen hinter den Kämpfern. Mit genauen Zahlen über die getöteten irakischen Soldaten hält sich das Verteidigungsministerium in Bagdad zurück, jedoch schätzt man die Verluste auf Seiten der Anti-IS-Koalition auf 2500 bis 3000 Mann. Laut Aussage des Peschmerga-Kommandeurs Bahrin Jasin fügen Sprengfallen und Minen den Koalitionären die größten Verluste zu. »Es sterben mehr Kämpfer durch diese heimtückischen Minen als im direkten Gefecht«, stellt der junge Kommandeur mit gesenktem Blick und resigniertem Ton fest.

Gleich zu Beginn der Operation hat er einen seiner besten Männer verloren. Sein Name: Dr. Said Kürükaya. Der Kurde wurde in der Osttürkei geboren und lebte seit vielen Jahren in Hamburg als Wäschereiunternehmer. Nach dem Aufstieg des IS wollte er seine kurdischen Landsleute unterstützen. Mehrfach im Jahr hielt er sich deshalb in Irak auf.

Es war ein Tag wie jeder andere im November, als der Entschärfungsspezialist Kürükaya und seine Einheit nach Baschika, einem Vorort von Mossul, aufbrachen. Die Kämpfer erzählen, Kürükaya habe allein in Mossul und Umgebung Dutzende Minen und Sprengfallen entschärft. Doch von seinem letzten Einsatz kehrt er nicht zurück: Ein Handgriff, den er unzählige Male ausgeführt hatte, wurde ihm diesmal zum Verhängnis. Zunächst wurde der Schwerverletzte nach Erbil, der Hauptstadt der kurdischen Autonomieregion in Nordirak, gebracht, anschließend flog ihn die Bundeswehr in ein Militärkrankenhaus bei Koblenz. Dort erlag er einige Tage später seinen Verletzungen.

Kürükaya wurde ob seiner Erfahrung und seines Mutes von vielen Menschen bewundert, erfährt man aus Gesprächen. Nicht nur in Nordirak. Er gilt als Märtyrer, als Schahid, wie die Kurden sagen. Wenige Tage nach seinem Tod wehen über den Militärstützpunkten in Frontnähe Fahnen mit seinem Konterfei. Peschmerga-Kämpfer tragen Schals mit den kurdischen Nationalfarben Grün, Rot und Gelb, die das Gesicht des Toten zeigen.

Dass Saids Wirken nicht vergessen wird, daran glaubt sein Bruder, Selim Kürükaya. Wir fahren mit ihm und einem kurdischen Kamerateam zu Said Kürükayas letztem Einsatzort. Dort bietet sich ein Bild kompletter Zerstörung. Selim Kürükaya betont, wie wichtig die Arbeit seines Bruders im Kampf gegen den IS gewesen sei. Und er sagt: »Die Peschmerga brauchen insbesondere bei der schwierigen Minenentschärfung mehr Unterstützung des Westens.«

Nicht allein Minen und Sprengfallen bereiten den Zurückkehrenden Sorgen. Schulen sind geschlossen, öffentliche Einrichtungen und die In᠆frastruktur wurden zerstört oder beschädigt, die medizinische Versorgung wird nur unzureichend gewährleistet. »Meine Tochter wird bald sterben. Niemand hilft uns, die irakische Armee hilft uns nicht, und die Kurden halten uns für Terroristen«, berichtet der sunnitische Araber Mohamed in Qayyarah, einem Vorort von Mossul.

Die einzige medizinische Versorgung stellen die Militärlazarette dar. Diese sind jedoch häufig schlecht ausgestattet, notleidende Zivilisten werden oft abgewiesen. Es kommt immer wieder vor, dass Patienten ihren Verletzungen auf dem Weg in ein anderes Lazarett erliegen.

Während Mohamed weinend von seiner Tochter erzählt, nähert sich ein junger Mann. Er möchte seinen Namen nicht nennen, da er mehrere Jahre für die US-Army in Irak als Übersetzer tätig war und Verfolgung befürchtet. Am liebsten will er in den USA in seinem erlernten Beruf als Elektroingenieur arbeiten. Doch dass dieser Traum in Erfüllung geht, daran kann er nur schwer glauben.

Plötzlich verdunkelt sich der Himmel. Es sind die Wolken von den brennenden Ölquellen in Qayyarah, die von zurückweichenden IS-Kämpfern in Brand gesetzt wurden. Beißender Gestank kriecht in die Ritzen der Häuser, zieht durch zerbrochene Glasscheiben. Landet er in den Atemwegen der Menschen, leiden die Betroffenen nach wenigen Minuten unter starken Kopfschmerzen und Übelkeit.

Zwar gelang es einem guten Dutzend Feuerwehrleuten, einige der Brände zu löschen, doch viele lodern noch immer. Ein Ende ist nicht absehbar. Mit stahlplattenverstärkten Bulldozern und einem alten Löschfahrzeug stellen sich die Feuerwehrleute dem Inferno entgegen. Es sind apokalyptische Szenen. Neben ihrem Fuhrpark ist auch die persönliche Schutzausrüstung sehr beschränkt. Nur die Wenigsten verfügen über Sauerstoffmasken.

Wie gehen die Löscharbeiten voran? »Selbst wenn die großen Brände gelöscht sind, unter der Oberfläche lodern schon neue Flammen«, sagt ein Feuerwehrmann. Ein Bild, das sich auf die gesamte Region übertragen ließe. Der Islamische Staat befindet sich in der Defensive, aber seine Ideologie schwelt weiter.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.