Neulich bei Neuschnee

  • Volker Surmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Samstag, Schneenacht, 2.30 Uhr. Berlin hat Neuschnee.

»Ist es nicht fantastisch, der Schnee macht alles still. Deckt alles zu. Völlige Stille!«, begeistert sich eine junge Frau in silberglänzenden Leggins und Oversize-Mantel gegenüber ihrem Begleiter. »Ich liiiieeeebe Stille!«, schreit sie, und liefe sie nicht gerade zum Berghain, ich würde es ihr sogar abnehmen.

Hier im Umfeld der Weberwiese, wo Nacht für Nacht unzählige Partyfans anlanden, herrscht Glückseligkeit auf frisch geröteten Gesichtern. Spanische Technojünger stecken ihre Vollbärte in verschneite Autodächer. Eine Gruppe französisch sprechender Mädchen zaubert hell giggelnd einen Chor aus Schneengeln auf die Wiese, ein bisschen sieht es aus wie nächtliches Horizontalyoga, was sie dort tun. Betrunkene Hipster rollen Schneekugeln über die Weberwiese und schießen Selfies with Snowmen auf ihre Instagram-Accounts. Winter macht die Menschen toll.

An der Kreuzung mit der Straße der Pariser Kommune steht ein Streufahrzeug auf dem Radweg. Die Ampel ist rot, aber selbst als sie auf Grün schaltet, bewegt es sich nicht vorwärts. Der Fahrer ist eingeschlafen. Die Rotphasen dieser Ampel sind gnadenlos. Ich klopfe einmal an die Scheibe. Der Fahrer fährt hoch und dann verschreckt weiter. Vom Ort seines unfreiwilligen Nickerchens zeugt danach nur noch ein halbkreisförmiger Hügel aus Rollsplit auf dem Radweg.

Unter den verschneiten Linden der Karl-Marx-Allee steht eine Frau und versucht, einen der historischen Kandelaber, die gerade die frisch überzuckerten Lindenzweige in verwunschenes Winterlicht tauchen, zu fotografieren. Mit Blitz. Sie versucht, Licht mit Blitz zu fotografieren. Winter macht die Menschen doof. Aber schön sieht’s trotzdem aus.

In meiner Straße steht ein Mann schwankend neben einem zugeschneiten Auto und hält sich mit einer nackten Hand im Neuschnee auf dem Dach fest. Vielleicht ist ihm schwindelig. Erst im Näherkommen sehe ich, was er eigentlich tut. Er versucht, das eingefrorene Schloss seines Autos aufzupinkeln. Aber so recht will es ihm nicht gelingen. Wahrscheinlich ist auch das besser so, er schwankt doch gewaltig und das Zielen klappt auch nicht so recht. Aber seine Hose wird schon wieder trocknen. Oder gefrieren. Und er einen ziemlich bepissten Autoschlüssel in die Taschen gleiten lassen. Sein Kumpel steht auf dem Gehweg und verlangt von ihm, aufzugeben: »Alta, das is gar nisch dein Auto! Dein Auto is schwarz, dies is voll weiß. Außerdem fährs du Mersedes, dies ist bloß Golf oder so Scheise.« Winter macht die Menschen blöd im Kopf.

Die beiden ziehen weiter. Morgen wird ein unschuldiger Autofahrer hier vor einem völlig eisverklebten Türschloss stehen und beim Versuch, es zu öffnen, auf einer spiegelglatten Pfütze vor der Fahrertür ausrutschen. Dann wird er den Winter lauthals verfluchen. Aber das ist morgen. Noch herrscht hier der Frieden einer Berliner Winternacht.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Mehr aus: Montagmorgen
- Anzeige -
- Anzeige -