Senat will Hauptstraßen für Autos auf eine Spur verengen
Nur mit deutlich mehr Fahrradverkehr lassen sich Klimaschutzziele erreichen
»Wir werden die Hauptverkehrsstraßen für Autos einspurig machen. Wir brauchen den Platz nämlich für andere«, sagt Verkehrs-Staatssekretär Jens-Holger Kirchner (Grüne). Damit zeichnet sich eine radikale Wende in der Berliner Verkehrspolitik ab. Denn nur so werden sich die Klimaziele – eine drastische Senkung des CO2-Ausstoßes – erreichen lassen. 203 Millionen Euro will der Berliner Senat bis 2020 nach Angaben Kirchners allein für die Förderung des Radverkehrs ausgeben.
Einen entscheidenden Anteil an den Senatsplänen hat das 2016 gestartete Fahrrad-Volksbegehren, für dessen Ziele innerhalb kürzester Zeit 100 000 Berliner unterschrieben hatten. Am vergangenen Mittwoch startete Verkehrssenatorin Regine Günther (parteilos, für Grüne) den Dialog zum neu zu erarbeitenden Mobilitätsgesetz, unter anderem mit den Initiatoren des Radentscheids. Diesen Montag soll bereits die zweite Runde stattfinden.
Am Freitagabend fanden gleich zwei hochkarätig besetzte Podiumsdiskussionen zum Thema in Berlin statt. Eine, unter Leitung des Fahrradclubs ADFC, in den Nordischen Botschaften, die andere, von der den Grünen nahestehenden Heinrich-Böll-Stiftung ausgerichtet, in deren Räumen. Bei beiden waren die Säle vollbesetzt.
Bei der Runde in den Nordischen Botschaften werden vor allem positive Beispiele für Fahrradfreundlichkeit aus Dänemark und Chicago vorgestellt. »Plötzlich steht nicht mehr die Frage im Raum, ob Radverkehr mehr Raum bekommt, sondern wie«, sagt die Berliner ADFC-Chefin Eva-Maria Scheel. »Wenn man will, dass die Menschen Radfahren, fragen Sie Frauen, was sie wollen«, so die Erkenntnis von Marianne Weinreich, Vorsitzende der Dänischen Fahrradbotschaft. Nicht nur gute und sichere Fahrradwege seien wichtig, sondern auch Zeichen der Wertschätzung. In Odense, der drittgrößten Stadt Dänemarks wurden Ampeln mit Regensensoren ausgerüstet. Wenn es nass und ungemütlich wird, haben Radler Priorität. »Ganz entscheidend ist aber auch gutes Marketing«, sagt Weinreich.
Beeindruckend sind die Beispiele von Dave Smith, Radinfrastrukturplaner in Chicago. Nach Amtsantritt des demokratischen Bürgermeisters Rahm Emanuel 2011 wurde dort innerhalb eines Monats der erste neue Radstreifen angelegt. »Die Kinzie Street war eine vierspurige Straße. Das ist sie immer noch. Sie hat nun zwei Spuren für Autos und zwei für Radler«, sagt Smith. Beim Bau einer abgetrennten Radspur in der Innenstadt wurden die Bürger regelrecht überrumpelt. Freitagabend begannen die Bauarbeiten und Montagfrüh war die neue Aufteilung unter Wegfall vieler Parkplätze bereits abgeschlossen. Trotzdem wurde Emanuel 2015 wiedergewählt.
In Berlin müssen der Ausbau der Fahrrad- und Nahverkehrsinfrastruktur Hand in Hand gehen, ist man auf dem Podium in der Heinrich-Böll-Stiftung überzeugt. »Man muss die Leute auf der Kurzstrecke auf das Rad bekommen, um im Nahverkehr mehr Platz für die Langstreckenfahrgäste zu bekommen«, sagt Heinrich Strößenreuther, Initiator des Radentscheids. »Bei U- und S-Bahn sind die Leistungsgrenzen an vielen Stellen schon erreicht«, sagt Susanne Henckel, Chefin des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg. Allein in der vergangenen Woche sei sie selbst fünfmal nicht in die U-Bahn gekommen, weil der Zug voll war.
Einen baldigen Testlauf für eine neue Verkehrsraumaufteilung kündigt Verkehrs-Staatssekretär Kirchner für die Frankfurter Allee in Friedrichshain an. Dort soll eine Spur stadtauswärts für den Fahrradverkehr abgetrennt werden. »Dann schlafe ich vorher gut aus und hole mir die Leute vom Volksentscheid und dann stellen wir uns da gemeinsam hin«, sagt er, mit wütenden Reaktionen rechnend. »Wenn es jetzt mal ernst wird mit den wegfallenden Parkplätzen, dann sind wir alle aufgerufen, dort zu helfen. Das schafft ein gewählter Politiker nicht allein«, sagt Heinrich Strößenreuther. Der Saal applaudiert.
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