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Der verlorene Sohn

Im Kino: »Lion« von Garth Davis

  • Tobias Riegel
  • Lesedauer: 3 Min.

Dem Astronauten Armstrong hätte der Mond nicht fremder erscheinen können als dem fünfjährigen Jungen Saroo der Multi-Millionen-Moloch Kalkutta. Armstrong hatte es sogar einfacher, er wurde für sein Himmelfahrtskommando trainiert und mit dem passenden Equipment ausgestattet, er hatte Hilfe und zumindest seelischen Beistand über Funk. Saroo hatte nichts von alldem. Und: Der Mond ist einsam und überschaubar, während das mörderisch chaotische Kalkutta in Garth Davis’ herzzerreißendem Drama »Lion« bis zum Bersten mit Menschen angefüllt ist.

Saroo (verletzlich und entzückend: Sunny Pawar) wird in dieser wahren Geschichte in den 1980er Jahren auf brutale Weise aus seiner armen, aber fürsorglichen Familie gerissen und in die kalte Welt geworfen: Sein älterer Bruder lässt ihn auf einem Kleinstadtbahnhof in der Nähe ihres Heimatdorfes zum Warten zurück. Der neugierige Saroo jedoch klettert in einen leeren wartenden Zug und schläft dort ein. Als er erwacht, rattert er bereits übers Land. Der Zug ist verschlossen und vergittert, ein Aussteigen nicht möglich - bis zur Endstation in Kalkutta am anderen Ende Indiens, über 1500 Kilometer von Saroos Heimat entfernt. Einer Heimat, deren Namen der Junge nicht kennt. Eine Rückkehr scheint für immer ausgeschlossen.

Doch der Knirps schlägt sich durch, er hat zahllose andere Straßenkinder als Vorbild. Schließlich landet er in einem Heim und wird vom Glück geküsst, als ihn ein liebevolles australisches Ehepaar adoptiert und ihm ein privilegiertes Leben in ihrer fernen Heimat ermöglicht: Saroo tritt dafür seine zweite Mondreise an. Nicole Kidman spielt die neue Mutter mit der ihr gegebenen Bravour und großem Mut zur Dauerwelle.

Mit Mitte Zwanzig holt die Vergangenheit Saroo (jetzt Dev Patel) ein, als ihn ein Freund auf das Programm »Google Earth« aufmerksam macht. Fortan versenkt sich der junge Mann in die Suche nach seiner alten Heimat, ganz Indien scannt er mit Satellitenbildern in seinem verzweifelten Versuch, Anhaltspunkte in seiner verschwommenen Erinnerung auszumachen. Die Sturheit und die Intensität, mit der er diese Suche nach seinen Wurzeln betreibt, droht jedoch seine neue Welt ins Unglück zu stürzen.

Garth Davis hat aus dem dramatischen Stoff einen angenehm leichten, aber doch berührenden und handwerklich weitgehend geglückten Abenteuer- und Familienfilm gemacht. Und er umschifft (ganz knapp) die bei dieser Geschichte offensichtlichen Klippen: Kitsch und westliche Arroganz sind nicht zu vermeiden, doch der Regisseur reduziert sie auf ein gerade noch erträgliches Maß. Sein Bemühen, keinen Elendsporno zu drehen, scheint zumindest durch. So lässt er den Indern noch in der bittersten Armut einen Rest Würde, im ersten Drittel wird nur indisch gesprochen.

»Lion« ist erfüllt von einer tiefen Melancholie, er spielt mit den Gedanken des Schicksals, mit dem Lotterie-Modell der potenziellen Lebenswege, mit dem oft quälenden »was-wäre-gewesen-wenn«. Auch wenn der oscarnominierte Film in der in Australien spielenden zweiten Hälfte deutlich an Kraft verliert, so versucht er doch auch das Bild der Adoptiveltern und ihrer Konflikte einigermaßen komplex zu zeichnen. Warum holen sich Wohlstandspärchen kleine arme und traumatisierte Schlucker in ihr Leben? Was ist hier Empathie, was Egoismus? Was wird hier kompensiert und ist diese Art westlicher Gewissenstherapie überhaupt vertretbar? Was macht es mit der »neuen« Mutter, wenn der Adoptivsohn manisch seinen Ursprung sucht? Und was bedeutet dieses Einzelschicksal angesichts der laut Film jährlich 80 000 vermissten Kinder in Indien?

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