Respekt dem Protest
Uwe Kalbe über einen bedenkenswerten Vorschlag zur Änderung des Wahlrechts
Soeben scheint das Gespenst der AfD ein wenig zu verblassen. Im Umfragehoch der SPD und mit ihrer erreichten Augenhöhe zur Union verspricht das Wahljahr 2017 plötzlich weniger von den Rechtspopulisten dominiert zu werden. So, als sei die Abkehr der Medienaufmerksamkeit die Abwehr der Verhältnisse selbst, bemerken die ersten Analytiker freudig, dass die AfD bereits viel von ihrem Schrecken verloren habe. Weg sind die Gespenster, seit nicht alle Blicke sie mehr suchen.
Doch natürlich sind sie noch da. Und schon weil die bevorstehenden Wahlen nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Niederlanden und Frankreich und vielleicht in Italien vom Risiko eines Rechtsrucks künden, wird das Problem bald wieder in all seiner Bedrohlichkeit aufscheinen. Dann werden auch Ideen zu Korrekturen im Wahlsystem wieder aufleben. So als steckten die Fehler dort, als schöpften die Menschen ihren Frust aus diesem selbst und nicht aus den Verhältnissen. Dann wird wieder von hoher Wahlbeteiligung geträumt, um die extremistischen Ränder zu schwächen.
Diese Begründung trägt die Polarisierung unverhohlen in sich und wird selbst zu einem Teil der Gründe, weshalb Wähler nicht wählen gehen. Denn sie begnügt sich nicht mit der nachvollziehbaren Rechnung, dass eine hohe Wahlbeteiligung ein Indiz für die Legitimität des politischen Systems ist. Vielmehr wird argumentiert, dass möglichst viele »Normalos« in der Rechnung am Wahlabend die angeblichen Ränder schwächen sollen. Fast erübrigt sich hinzuzufügen, dass solche Überlegungen in der Mehrzahl vom Standpunkt des »Normalos«, also im Geiste der Parteien der sogenannten Mitte angestellt werden.
Der Nichtwähler wird dabei gern gegen den Protestwähler ins Gefecht geführt, der der Inbegriff aller Gefahren ist, denn er hat sich im Prinzip entschieden, während der Nichtwähler noch zu schwanken scheint. Doch auch Nichtwählen kann eine Form des Protests sein. Und die Frage tut sich auf, ob die ungeniert angestrebte Marginalisierung des Protestwählers nicht selbst ein Angriff auf normative Voraussetzungen der parlamentarischen Demokratie ist, nämlich auf den Rechtssatz der Gleichheit der Wahl.
Der Thüringer Landesverband von »Mehr Demokratie« hat hierzu einen interessanten Vorschlag unterbreitet, der dieses Konfliktpotenzial entschärfen helfen könnte. Jeder Wähler, so schlägt der Verein vor, sollte erstens mehr als nur zwei Stimmen haben. Durch die freie Vergabe an einzelne Kandidaten könnte die Reihenfolge auf den Wahllisten der Parteien verändert werden, was bisher nicht möglich ist. Für einen Großteil der Kandidaten, besonders großer Parteien, hat sich alles Bangen mit dem Parteitag erledigt, der sie auf einen vorderen und damit sicheren Listenplatz hob. Zweifellos würde die Beseitigung dieser Gewissheit die Demut der Parteien fördern und die Souveränität des Wählers erhöhen, denn der könnte eine eigene Gewichtung der Kandidaten vornehmen und die Vorentscheidung der Parteien über den Haufen werfen.
Zweitens wollen die Thüringer eine Proteststimme einführen. Deren Summe soll im Wahlergebnis gleichberechtigt mitgeteilt werden, auch wenn sie sich am Ende natürlich nicht in den Parlamenten widerspiegeln kann. Ein sehr interessanter Vorschlag. Er führt die Stimmenthaltung ein für jene, die ihren Unmut bisher einer »Protestpartei« aufpfropfen, ohne sich mit ihr verbunden zu fühlen, oder gleich zu Hause bleiben. Sie alle könnten den Protestbutton direkt drücken. Dies ginge sicher zu Lasten sogenannter Protestparteien. Doch die Idee hat den Vorzug, dass sie nicht zur Schwächung des Wählers führen würde, sondern auch dieser Eingriff in das normative Verfahren hätte seine Aufwertung zur Folge. Nicht Marginalisierung eines Teils der Wählerschaft wäre das Ergebnis, sondern seine bessere Identifizierung.
Das kann man sogar als wohlverstandenes Interesse auch der Protestparteien betrachten, weil sich ihr Ergebnis um den Faktor Zufall reduziert. Nebenbei entstünde auch für die Gesellschaft als Ganzes ein klareres Bild von ihrem realen Zustand. Bundestagspräsident Norbert Lammert, der seit Jahren auf eine Vereinfachung des Wahlsystems drängt, wies in einer Rede auf die Gefahren hin, die die Verselbstständigung der Parteienherrschaft birgt. In der Weimarer Republik sei die Verachtung der parlamentarischen Demokratie eine der Voraussetzungen für den Siegeszug der Nazis gewesen. Eine Warnung in letzter Minute.
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