Martin Schulz ist der »Spiritus Rector der Großen Koalition«
Die GUE/NGL-Fraktionsvorsitzende Gabi Zimmer über den SPD-Kanzlerkandidaten und seine Rolle als Präsident des EU-Parlaments
Die SPD feiert ihren designierten Vorsitzenden und Spitzenkandidaten Martin Schulz als Heilsbringer. Vor allem mit seinen markigen Sprüchen zum Thema soziale Gerechtigkeit punktet der ehemalige EU-Parlamentspräsident. Sie kennen Martin Schulz seit vielen Jahren, war er im Parlament auch ein Anwalt der kleinen Leute, für die er nun vorgibt, kämpfen zu wollen?
Er ist vor allem jemand, der in seinen ersten Jahren als Präsident das Europaparlament im Machtkampf mit den anderen Institutionen gestärkt hat. Konkrete Forderungen von ihm zu sozialen Rechten sind mir nicht bekannt. Er hat akzeptiert, wenn ich ihn in der Konferenz der Fraktionsvorsitzenden aufgefordert habe, als Parlamentspräsident die EU-Staatschefs auf ihren Gipfeltreffen mit den direkten Folgen ihrer neoliberalen Reformen zu konfrontieren und Änderungen zu verlangen. Wie entschieden er das dann tat, sei dahingestellt. Im Zweifelsfalle konnte er sich immer darauf zurückziehen, dass die große Mehrheit des Parlaments lange Zeit diese Politik mittrug. Ich kenne keine eigenen Initiativen zur Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit, die von Martin Schulz als EP-Präsident ausgingen oder demonstrativ von ihm unterstützt wurden. Ich kenne aber den »Fünf-Präsidenten-Bericht«, in dem er gemeinsam mit den Chefs der anderen EU-Institutionen eine solche »Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion« vorschlägt, die auf eine »Troika für alle« hinausläuft. Also Neoliberalismus pur.
Schulz stellt sich nun als jemand dar, der Kompromisse eingefädelt hat und viele Zugeständnisse machen musste. War Schulz nicht tatsächlich der informellen Großen Koalition verpflichtet, also den Sozialdemokraten und den Christdemokraten?
Nein, er war der Spiritus Rector der Großen Koalition. Wem er sich verpflichtet fühlte, das weiß nur er selbst. Wenn, dann hat er die Fraktionsdisziplin der Sozialdemokraten eingefordert. Das war bei den Freihandelsabkommen CETA und TTIP der Fall. Da hat er die Kommission gestützt. Mit Kommissionschef Jean-Claude Juncker hat er einen Deal geschlossen und die Mehrheit im Parlament so organisiert, dass die Kommission mit ihren Positionen im Wesentlichen durchkam. Es ist kein Geheimnis, dass er Juncker schon den Allerwertesten rettete, indem er Einfluss auf einen Misstrauensantrag gegen Juncker wegen der Luxleaks-Affaire nahm, so dass der Antrag scheiterte.
Er nimmt für sich aber in Anspruch, das Schlimmste verhindert zu haben. Hatten Sie den Eindruck, dass Martin Schulz zumindest auf die Christdemokraten eingewirkt hat, um sozialpolitische Forderungen durchzukriegen?
Diesen Eindruck hatte ich überhaupt nicht. Er war im Laufe der Zeit durchaus sehr flexibel in seinen Positionen. Ich erinnere mich gut daran, dass er Forderungen nach einem Stopp der Austeritätspolitik anfangs eine kategorische Absage erteilt hat. Er stand fest für die europäische und damit vor allem deutsche Sparpolitik ein, ohne Rücksicht auf deren desaströse Folgen. Ich erinnere mich, wie er den griechischen Premierminister Alexis Tsipras wegen des Referendums beschimpft hat und ihm öffentlich vorwarf, das griechische Volk zu betrügen. Erst später hat er scheinbar eine Kehrtwendung in der Griechenland-Frage vollzogen, als die griechische Schwesterpartei der SPD, die PASOK, praktisch untergegangen war. Er konnte sich durchaus auf politische Großwetterlagen einstellen.
Welche Macht hatte Schulz als Parlamentspräsident? Konnte er ein eigenes Agenda-Setting betreiben oder führte er nur aus, worauf sich die beiden großen Fraktionen und die anderen EU-Institutionen verständigt hatten?
Natürlich beherrscht er das Setzen eigener Themen. Er hat das EP auch als Bühne verstanden. Er ist ja als ein sehr politischer Parlamentspräsident aufgetreten, agierte oft direkt, manchmal aggressiv. Er blieb Orban, Kaczynski oder auch Erdogan nichts schuldig. Das hat ihm Ärger eingebracht, ich habe ihn dafür respektiert. Er teilt aus, ist aber andererseits selbst dünnhäutig. Meine Kritik zielt mehr auf sein Agieren in das Parlament hinein und dass er das Parlament mit der Kommission gemein machte. Martin Schulz hat dafür gesorgt, dass die sozialdemokratische Fraktion auf der Linie blieb, die er zuvor mit den Christdemokraten, teilweise den Liberalen und dem Kommissionspräsidenten festgelegt hatte. Das war sein »Verdienst« und hat zu großen Spannungen innerhalb der Sozialdemokraten geführt. Diese Entfremdung gipfelte darin, dass sich die S&D-Fraktion mit der Neuwahl des Präsidenten von seiner Art der Parlamentsführung ausdrücklich distanzierte. So etwas habe ich in meiner politischen Laufbahn noch nicht erlebt.
Die eigene Fraktion hat sich von Schulz distanziert?
Im Namen der S&D-Fraktion wurde nach Martin Schulz› Rückzug nach Berlin öffentlich erklärt, dass die Große Koalition mit der EVP beendet sei. Die enge Zusammenarbeit mit den Christdemokraten sei ein Fehler gewesen. Sie habe nicht den Zweck erfüllt, den Einfluss der Rechtsextremen von Frau Le Pen und anderen im Parlament zu begrenzen. Wie der S&D-Fraktionsvorsitzende Gianni Pittella resümierte, habe die Große Koalition im EP das Gegenteil bewirkt.
Der Abgang von Schulz macht also den Weg frei für neue Allianzen?
Nicht nur Portugiesen, Spanier, Italiener oder Franzosen, auch SPD-Abgeordnete in der Fraktion haben mir gegenüber bestätigt, dass sie es ernst meinen würden mit dem Angebot zur Zusammenarbeit. Kooperationen werden sicher punktuell möglich sein. Es braucht eine Phase, in der das Vertrauen, das für die innerparlamentarische Arbeit unabdingbar ist, im Parlament wieder aufgebaut werden kann. Das ist fast völlig zerstört worden unter der Großen Koalition.
Wie wurde ihr Vertrauen denn zerstört?
Man hat uns, die Grünen und andere häufig auf der Fraktionsebene ausgegrenzt. Die Vorberatungen fanden zwischen den Konservativen, Sozialdemokraten und manchmal den Liberalen statt. Dort wurden die wichtigen Entscheidungen getroffen. Sie gaben sich dann nicht mal mehr die Mühe, das zu verschleiern. Philippe Lamberts, der Co-Vorsitzende der Grünen, und ich haben eine Sitzung demonstrativ verlassen, weil es uns zu bunt wurde. Formal zog sich Martin Schulz dann darauf zurück, dass er damit nichts zu tun habe. Alle Fraktionsvorsitzenden könnten sich schließlich treffen wie sie wollten.
Ob sich das jetzt ändert, wird sich zeigen. Gianni Pitella war schließlich als S&D-Fraktionsvorsitzender Teil dieses Spiels. Das meine ich auch, wenn ich davon spreche, dass Vertrauen neu aufgebaut werden muss. Auch wenn Gianni Pittella nun bewusst den Kontakt und die Kooperation mit den Grünen und mit den Linken sucht. Er hat erklärt, dass er sich an Verhandlungen mit den Konservativen nur beteiligen wird, wenn auch wir dabei sind. Das Klima hat sich etwas verändert. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass wir jetzt in den nächsten Wochen schon in der Lage sind, Mehrheiten zu organisieren.
Das wird ohnehin schwierig, denn weder das links-grüne Lager noch das christlich-konservative Lager verfügen über eigene Mehrheiten. Die rechten Europafeinde könnten zum Zünglein an der Waage werden …
Es gibt eine Initiative von Manfred Weber, CSU, dem Fraktionsvorsitzenden der Konservativen, dem auffiel, dass zwischen den beiden großen Blöcken, dem Mitte-Rechts-Block und dem Mitte-Links-Block, eine Differenz von 60 und 80 Stimmen besteht, die durch die Rechtsextremen jeweils ausgeglichen werden kann. Weber befürchtet, dass bei kontroversen Debatten die Entscheidung durch die Rechtsextremen getroffen werden könnte. Deshalb hat er angeregt, dass es eine gemeinsame Abstimmung zu technischen Fragen gibt, also beim Agenda-Setting im Parlament und bei den Themen für aktuelle Stunden, die als ein neues Mittel in der parlamentarischen Debatte eingeführt worden sind. Wir sind hier sehr zurückhaltend, da wir einerseits nicht die Hinterzimmerdeals der Großen Koalition durch Deals von nunmehr sechs der acht EP-Fraktionen ersetzen wollen. Wir bestehen auf Transparenz und lassen uns inhaltlich nicht binden. Andererseits kann es Manfred Weber nicht lassen, uns bei jeder Gelegenheit als Linke mit den Rechtsextremen und Nationalisten in einen Topf zu werfen.
Der Mitte-Links-Block ist ja kein festes Bündnis, sondern allenfalls eine Konstellation. Wo sehen Sie mögliche Schnittmengen mit Grünen und Sozialdemokraten?
Ich sehe eine ganze Reihe von gemeinsamen Politikfeldern. Das Problem ist, dass es nicht möglich ist, einfach den Schalter umzulegen. An vielen Gesetzesinitiativen arbeiten Konservative und Sozialdemokraten bereits seit mehreren Monaten zusammen. Wir haben das Ergebnis der CETA-Abstimmungen gesehen, als große Teile der SPD-Fraktion für das Abkommen votierten, es diesmal aber sichtbar Gegenstimmen vieler Sozialdemokraten gab. Schnittmengen sehe ich bei der sogenannten »Sozialen Säule«, einem Vorhaben der Kommission, einen Rahmen für Sozial- und Beschäftigungsschutz in der EU zu schaffen. Die Sozialdemokraten, die in ihren Mitgliedstaaten massiv unter Druck stehen, teilweise regelrechtem Existenzdruck, haben mehrheitlich einen anderen Kurs eingeschlagen. Sie wenden sich jetzt gegen Austeritätspolitik, gegen die Zerstörung Griechenlands, stimmten für konkrete Beschäftigungs- und Sozialrechte und haben unsere Forderung nach einem Beitritt der EU zur Europäischen Sozialcharta aufgegriffen und selbst eigene Vorschläge eingebracht. Das alles hat aber nichts mit Martin Schulz zu tun, sondern ist der Erfahrung und der Angst geschuldet, ansonsten ähnlich wie die griechische PASOK in ihren Ländern unterzugehen.
Ist es nicht auch schwierig, innerhalb Ihrer Fraktion gemeinsame Positionen zu finden? Die Mitgliedsparteien kommen ja teilweise aus sehr unterschiedlichen politischen Kulturen und vertreten verschiedene Positionen - gerade zur EU. Das Spektrum reicht von tschechischen Kommunisten über die irische Sinn Fein bis hin zur spanischen PODEMOS …
Die Abgeordneten haben zum Teil sehr kontroverse Sichten auf die EU, den Euro und damit auf die Frage, wie die Zukunft der EU aussehen sollte. Wir haben die Vertreterin eines dänischen Bündnisses für den Austritt des Landes aus der EU bei uns. Die Portugiesischen Kommunisten können wegen der Austeritätspolitik dem Euro nichts abgewinnen. Andere wiederum befürchten, dass ein Rauswurf Griechenlands aus dem Euro die Mehrheit der Bevölkerung existenziell gefährdet. Da kracht es manchmal ganz schön in der Fraktion.
Gibt es Positionen, die alle Mitglieder teilen?
Zuallererst steht unser gemeinsames Agieren in der Flüchtlings- und Migrationspolitik, auf EU-Ebene und in den Mitgliedstaaten. Selbstverständlich eint uns die Ablehnung der herrschenden neoliberalen Politik.
Wir sind uns einig, dass die EU eine soziale Union sein muss, dass es sozialer und ökologischer Standards bedarf. Wir wollen die Demokratie in den Mittelpunkt rücken. Wir brauchen mehr direkte Bürgerbeteiligung, die Europäische Bürgerinitiative muss dringend gestärkt werden. Da sind wir uns schon sehr nahe. An unserem Abstimmverhalten ist erkennbar, dass wir in zentralen Fragen wie der Ablehnung von CETA und TTIP gemeinsam stimmen.
Sie sprachen gerade von den Defiziten der EU. Wo besteht denn dringender Reformbedarf?
Es geht um elementare Dinge: Die Rücknahme aller Regeln, die die Mitgliedsländer zum Sozialabbau drängen, die ihre Haushalts- und Finanzpolitik strangulieren. Verzicht auf militärische Auf- und Nachrüstung. Solidarische Lösung der Schuldenproblematik durch einen EU-Schuldenfonds. Den Finanzsektor wirksam regulieren, die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen ebenso wie die Ungleichgewichte in den Handels- und Zahlungsbilanzen abbauen. Es muss Schluss sein mit der Privatisierung des Öffentlichen. Ich werde auch immer wieder einfordern, dass wir Armut und soziale Ausgrenzung durch verbindliche EU-Standards beseitigen. Dazu gehört für mich auch endlich die Auflage eines öffentlichen EU-Investitionsprogrammes. Nur so kann die Absicht Wolfgang Schäubles und anderer verhindert werden, eine Zwei- oder gar Drei-Klassen-Union zu manifestieren.
Rot-Rot-Grün auf Bundesebene würde auch Europa guttun?
Die Linke in Europa muss gemeinsame Strategien entwickeln, wenn wir rauswollen aus der Zuschauerrolle. Der Haupthebel für diese dringenden Veränderungen liegt in Deutschland. Es gibt sehr große Erwartungen in den anderen Mitgliedstaaten, dass sich die Kräfteverhältnisse in Deutschland entscheidend ändern. Ohne diesen politischen Wechsel werden die Menschen in Griechenland, Portugal, Italien, Spanien auch weiterhin Bürger zweiter Klasse in der EU sein und ihnen wichtige EU-Grundrechte einfach verweigert werden.
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