Nein-Kampagne wird in die Nähe von Terrorismus gerückt

Erdogan muss seine Superpräsidentschaft dem durchaus misstrauischen Volk erst noch verkaufen

  • Jan Keetman
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Regierungskampagne für das Referendum für die Einführung eines Präsidialsystems ist ja bereits am 16. April begonnen worden, kurioserweise in Deutschland, in Oberhausen. Allerdings hat das durchaus Sinn. Die türkische Führung erwartet offenbar selbst ein knappes Ergebnis, und da sind die etwa 1,4 Millionen in Deutschland lebenden türkischen Wahlberechtigten eine kaum zu unterschätzende Zahl. Und viele davon werden auch wählen gehen.

So kämpfte also Ministerpräsident Binali Yildirim am vorletzten Wochenende in Nordrhein-Westfalen praktisch für die Abschaffung seines eigenen Amtes zugunsten eines fast allmächtigen Präsidenten. In der Türkei begann die Kampagne so richtig am zurückliegenden Wochenende mit einem Auftritt von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan in Ankara. Ab sofort dürfte er noch mehr als sonst omnipräsent auf allen Fernsehkanälen sein. Der Präsident macht gar keinen Hehl daraus, dass die angestrebte Verfassungsänderung ganz sein Kind ist. Er sagt, er habe sich das ausgedacht, weil es zugunsten der Türkei sei.

Hilal Kaplan, Kolumnistin der Istanbuler Zeitung »Sabah«, erklärt die Gründe für die Verfassungsänderung wie folgt: Der Putschversuch vom 15. Juli habe gezeigt, dass nichts so bleiben könne wie zuvor. Es wäre angesichts der vom Ausland kommenden »Sabotage« verheerend, mit einer zwischen Ministerpräsident und Präsident gespaltenen Führung weiterzumachen.

Die Nein-Kampagne der Gegner einer präsidentiellen Allmacht wird folglich in die Nähe von Terrorismus gerückt. Diese »Logik« ist schlicht: Die »Terrororganisationen« seien gegen die Verfassungsänderung, und die Nein-Kampagne »sitzt mit im selben Boot«, so Erdogan. Dass entsprechende Erklärungen von »Terrororganisationen« gar nicht vorliegen, spielt offenbar keine Rolle.

Dass die Nein-Kampagne in das Umfeld des Terrorismus gebracht wird, ist nicht nur eine Verbalinjurie, sondern hat auch praktische Konsequenzen. Zum Beispiel haben viele Leute Angst, der Kampagne Räume für Veranstaltungen zur Verfügung zu stellen. Hinzu kommt, dass noch immer der Ausnahmezustand gilt. Der am 30. Januar aus der Untersuchungshaft entlassene Fraktionsführer der oppositionellen Demokratische Partei der Völker (HDP), Idris Baluken, fürchtet, dass der Ausnahmezustand insbesondere in den kurdischen Provinzen zur Unterdrückung der Nein-Kampagne angewandt wird. »Der Ausnahmezustand ist ohnehin in den vorwiegend kurdischen Provinzen de facto ein Kriegsrecht«, meint Baluken. Das werde noch schlimmer werden, wenn der 16. April näher rücke.

Kurz darauf war Baluken schon wieder in Haft. Die Vorwürfe sind die üblichen bei kurdischen Politikern: Separatismus, Verstoß gegen das Versammlungsrecht, Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation.

Tatsächlich kommt im türkischen Parteienspektrum der entschiedenste Widerstand gegen Erdogans Pläne von den Kurden. Auch die größte Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei, ist gegen die Verfassungsänderung. Doch auf große Kundgebungen will sie verzichten. Kleinere Versammlungen und der Kampf über die sozialen Medien sollen es richten.

Die Anhängerschaft der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) ist gespalten. Ihr Vorsitzende Devlet Bahceli hat sich für die Unterstützung Erdogans entschieden. Von einer sehr regen parteiinternen Opposition wurde jedoch eine Nein-Plattform» gebildet. Die zum Teil bereits ausgeschlossenen Mitglieder der «Nein-Plattform» dürften noch immer einen großen Teil der MHP-Wähler erreichen.

Erdogans größtes Problem ist indessen, dass die Superpräsidentschaft tatsächlich sein Projekt ist, ein großer Teil seiner Wählerschaft steht dem Projekt abwartend gegenüber. Das war bereits bei der Wahl im Sommer 2015 zu erkennen, als die Regierungspartei schon einmal die Stärkung des Präsidentenamtes ins Zentrum ihrer Kampagne rückte und an den Wahlurnen einen herben Rückschlag erleben musste. Wenn man ersten Meinungsumfragen trauen soll, so zeichnet sich auch jetzt keine klare Mehrheit für Erdogan ab. Aber noch hat seine Kampagne ja erst begonnen.

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