Ein Tag wird kommen

Im Spätwerk der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann zerfällt die Sprache und verweist so auf eine entmenschlichte Welt. Doch auch eine sozialutopische Vision kommt zum Vorschein

  • Christian Lotz
  • Lesedauer: 6 Min.

Das Werk der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann ist nicht selten von linker Seite beargwöhnt worden; scheint sich ihre Sprache doch aus der Welt zurückzuziehen und einer sozial-realistischen und kritischen Analyse der Realität zu entziehen: »Distanz zur gesellschaftlichen Realität« (und damit zur sozialen Praxis) - so lautete das Urteil im 1968er »Kursbuch«. Dass sich politische Konflikte in psychologischen abzeichnen und dass gerade Bachmanns Kampf des weiblichen Ich in einer männlich-patriarchalischen Welt zutiefst politisch und real ist, wurde am Anfang übersehen. Bachmann hatte selbst schon früh darauf hingewiesen, dass der »Faschismus« in der tagtäglichen Auseinandersetzung zwischen Frau und Mann sowie im generellen sozialen Miteinander beginnt. Heute ist Ingeborg Bachmann einer der Leitsterne der feministischen Literaturwissenschaft. Ihre gegenwärtige Bedeutung zeigt sich auch daran, dass der erste Band der neuen, auf 30 Bände angelegten Werkausgabe Bachmanns soeben bei Suhrkamp erschien.

Es geht bei Bachmann von Anfang an um den wirklichen Kampf eines Ichs, das, sozial und psychologisch am Rand stehend, sich der Materialität der eigenen körperlichen Existenz in der Form der eigenen Sprachlichkeit bis zum Tode aussetzt. Als Theodor W. Adorno seinen berühmten Satz, dass nach Ausschwitz Gedichte zu schreiben barbarisch sei, nach heftiger Kritik wieder zurücknahm, hat er auch zugeben müssen, dass menschliches Leiden sein absolutes Recht hat, sich Ausdruck in der Kunst zu verschaffen, und dass es ungerecht ist, dieses Leiden, wie die linke Gesellschaftskritik das tut, als Flucht ins Innere zu diffamieren. Bachmanns Schreiben ist von der Materialität des Leidens an der existierenden Welt nicht zu trennen, und diese Materialität sollte als ein Hilferuf nach Solidarität in einer unsolidarischen Welt zu verstehen sein.

Poliklinik Prag (1965)

Da ist alles umsonst. Kostet nichts mehr.

Nur die krank sind. Kein Reichenhaus, kein Armenhaus,

nur ein Krankenhaus für die Kranken, kostet nichts,

alles umsonst, kein Vortritt und keine Privilegien,

da sind alle krank und klopfen an wie ans Paradies

und taumeln wie vorm Paradies und atmen kaum.

Ingeborg Bachmann

Es ist das Verdienst der beiden Autoren und Literaturwissenschaftler Hans Höller und Arturo Larcati, diese Dimension in ihrem vor kurzem erschienenen Buch, einer Vorabpublikation zur großen Bachmann-Edition, anhand eines neu zusammengestellten späten Gedichtzyklus, »Winterreise nach Prag«, in dem sich sieben Gedichte aus den 60er Jahren um das berühmte »Böhmen liegt am Meer« (1966) entfalten, intellektuell aufzuschließen und in seinem gesamten Kontext durchsichtig zu machen. Das Buch ist ein kleines Meisterwerk, weil es sich weder rein empathisch in der Biografie der Dichterin verliert noch sich im distanzlosen wissenschaftlichen Nirgendwo wiederfindet. Die beiden Autoren verstehen es, nach jahrelanger Arbeit, viele Motive des Bachmannschen Werks kunstvoll zusammenzuflechten. Literaturwissenschaft ist hier für Leserinnen und Leser konzipiert.

Dass es sich beim Schaffen der Schriftstellerin nicht um ein distanzloses Projekt handelt, wird an der utopischen Vision sichtbar, die sich in fast allen Werken Ausdruck zu verschaffen sucht. In Bachmanns Welt zerfällt die Sprache, und mit der Sprache zerfällt auch die Welt. Was der Leserschaft - aufgrund von Bachmanns Krankheit, ihrem Medikamentenmissbrauch und verfehlten Liebesgeschichten mit anderen Schriftstellern (wie Celan und Frisch) - leicht entgehen kann, ist die in der Welt der Schriftstellerin enthaltene sozialutopische Dimension, die vor allen Dingen in den letzten zehn Jahren ihres Schaffens, aber auch in ihren kritischen Schriften zum Vorschein kommt. Das Buch von Höller und Larcati rückt diese sozialutopische Dimension in Bachmanns Schreibprozess ins richtige Licht, und sie rückt die Autorin damit in die großen Traditionen moderner Literatur. So sagt Bachmann selbst, in völliger Zerrissenheit, im Jahr 1973 in ihrem letzten Gespräch mit Gerda Haller in Rom: »Ich glaube wirklich an etwas, und das nenne ich ›Ein Tag wird kommen‹. Und eines Tages wird es kommen - ja, wahrscheinlich wird es nicht kommen, denn man hat es uns ja immer zerstört. Seit so vielen tausend Jahren hat man es immer zerstört. Es wird nicht kommen, und trotzdem glaube ich daran, denn wenn ich nicht daran glauben kann, kann ich auch nicht mehr schreiben.« Die Existenz des schreibenden (und denkenden) Ichs wird hier an die Vision einer besseren und sozial gerechteren Welt gekoppelt. Im selben Gespräch deutet Bachmann direkt auf den Kern der Zerstörung der Welt: »Und ich glaube nicht an diesen Materialismus, an diesen Kapitalismus, an diese Ungeheuerlichkeit, die hier stattfindet, an diese Bereicherung der Leute, die kein Recht haben, sich an uns zu bereichern.«

Obwohl Bachmanns »Ich« in der Welt keinen Platz findet und zwischen Innen und Außen hin- und hergeworfen scheint, so ist das Entscheidende, dass die Authentizität und der Kampf des Ichs in unserer entmenschlichten Welt in der Sprache als Suche nach dem wahren Wort und dem richtigen Ausdruck erscheint. Wer einmal Bachmann selbst das Gedicht »Böhmen liegt am Meer« hat lesen hören, wird in dem in der Stimme zur Sprache kommenden Gedicht die Spannung zwischen Zerstörung und Hoffnung nicht mehr vergessen und sie beim Wiederlesen des Gedichtes mithören. Das Leiden ist nicht die »Bedeutung«, auf die der sprachliche Ausdruck wie auf etwas ihm Fremdes verweist, sondern die Sprache selbst beginnt hier zu leiden und gewinnt damit eine Körperlichkeit und Gegenwärtigkeit wie bei kaum einer anderen Schriftstellerin. Bei Bachmann ist die Sprache im wahrsten Sinne des Wortes krank geworden. Kein Wort gilt mehr als gegeben, die Wort-Bedeutungseinheit ist zerbrochen. Der Sprachkonflikt erscheint daher als Konflikt des Ich mit einer Welt, die selbst so krank ist, dass jede Rückkehr des kranken Ichs in die Wirklichkeit zu einem Rückstoß aufs Ich, d.h. dessen Sprache, führt.

In einem Brief aus dem Jahre 1964 - vor einer Reise nach Prag, der Stadt von Franz Kafka - schreibt Bachmann, dass nach dem Überstehen ihrer letzten Krankheitsepisode für sie die Welt »auseinandergefallen« sei. Wie die beiden Autoren hervorheben, gilt diese Feststellung nicht nur für die Bachmannsche Biografie, sondern vor allen Dingen für den Schreibprozess selbst. So wie Auschwitz und der voranschreitende Kapitalismus die Welt auseinanderfallen lässt, so bildet sich dieser Prozess im Verlust der Werkeinheit ab. Das Ich, die Welt und die Sprache, d.h. die Klammer um die gesamte Wirklichkeit, ist im wahrsten Sinne des Wortes zerfetzt und wird, in dem traurigen Bemühen, doch noch die Einheit herzustellen, in Bachmanns Texten protokolliert. Die Brüchigkeit der sprachlichen Einheit und Sinngebung ist verwoben mit der Brüchigkeit des Ichs und der sozialen Welt. Die zunächst als subjektiv erfahrenen Konflikte und die nur scheinbare »Distanz zur gesellschaftlichen Praxis« sind daher bei Bachmann in Wahrheit objektive Konflikte: Das sozial bestehende Leiden hat sich reflexiv nach innen gewendet und findet in der sprachlichen Existenz des Ichs seinen Ort. Dieses Leiden ist aber nur möglich, weil, wie die beiden Autoren in ihrer Analyse hervorheben, die Utopie einer »Welt, in der die Herrschaft des Geldes nicht mehr gilt«, als das eigentliche Ziel des Kunstwerks angesprochen wird. Das Tauschprinzip steht der Versöhnung entgegen. Die Sprache steht in der Mitte und findet sich zwischen den Polen Zerstörung und Hoffnung wieder, ohne dem einen oder dem anderen den Vorzug geben zu können - zerrissen, aber in dieser dialektischen Zerrissenheit wahr. Bachmanns späte Lyrik bleibt gerade deshalb im emphatischen Sinne mimetische Annäherung an die Wahrheit und ist realistisch. Herbert Marcuses Satz, dass »jedes authentische Kunstwerk revolutionär [ist], insofern es die herrschenden Formen der Wahrnehmung und des Verstehens untergräbt, eine Anklage der bestehenden Realität darstellt und das Bild der Befreiung aufscheinen lässt«, trifft auf Bachmann nur umso mehr zu.

Der Zyklus »Winterreise nach Prag« steht daher für eine sozialistische und utopische Version einer Welt, in der es um die Suche nach dem Grund von Sprache und Hoffnung geht: »Grenzt hier ein Wort an mich, so lass ichs grenzen. / Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder. / Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land«.

Höller, Hans/Larcati, Arturo: Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag. Piper. 176 S., Hardcover, 18 Euro.

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