Halbhoch die internationale Solidarität!
SPD-Chef Sigmar Gabriel inszeniert sich als Unterstützer von in der Türkei inhaftierten Oppositionspolitikern
Sigmar Gabriel wird das Willy-Brandt-Haus vermissen. Seit Brandt, dem Kanzler der ersten sozialdemokratisch-liberalen Koalition in der Bundesrepublik, hat niemand so lange wie Gabriel als SPD-Chef amtiert. Der Niedersachse hat oft betont, wie stolz er sei, dieses Amt zu bekleiden. Ende dieser Woche wird nach fast siebeneinhalb Jahren Schluss sein. Am Sonntag soll ein Berliner Parteitag Gabriels Freund Martin Schulz zum neuen SPD-Chef wählen und zum Kanzlerkandidaten küren.
Am Montag hat sich Gabriel einen letzten großen Auftritt in der Parteizentrale gesichert. Er hält eine Rede beim Kongress der Progressiven Allianz. Die Gründung dieses weltweiten Bündnisses sozialdemokratischer Parteien hatte Gabriel im Mai 2013 maßgeblich vorangetrieben. Die Allianz ist ein Gegenprojekt zur Sozialistischen Internationale (SI), von der in den vergangenen Jahren ohnehin kaum noch jemand Notiz genommen hatte. Sie war erst wieder in die Schlagzeilen geraten, als sie die Parteien der autoritär in Tunesien und Ägypten herrschenden Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali und Husni Mubarak erst dann ausgeschlossen hatte, als diese in ihren Ländern während des sogenannten Arabischen Frühlings im Jahr 2011 abgesetzt worden waren. Gabriel hatte damals beklagt, dass die SI »keine Stimme der Freiheit mehr in der Welt« sei. Deswegen hielt er eine Neugründung für notwendig.
Seitdem existieren die Internationale und die Allianz nebeneinander. Einige sozialdemokratische Parteien sind in beiden Organisationen Mitglieder. Gabriel hat sein Ziel, den Debatten in seinem Zusammenschluss mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, bislang nicht erreicht.
Das soll nun anders werden. Die »Bild«-Zeitung, die von Gabriel nicht selten mit Exklusivtexten aus eigener Feder und Informationen versorgt wird, meldete Anfang Februar, dass der SPD-Chef den Parteivorsitzenden der prokurdisch-linken Partei HDP, Selahattin Demirtas, zu dem internationalen Kongress eingeladen hatte. Demirtas kann allerdings nicht kommen, weil er zusammen mit vielen seiner Parteikollegen im Zuge der Repressionswelle in der Türkei inhaftiert worden ist.
Die islamisch-konservative Regierungspartei AKP von Staatschef Recep Tayyip Erdogan behauptet, dass die HDP der verlängerte Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK sei. Für die HDP, die ebenso wie andere Linksparteien auf der Welt nicht Mitglied der SI oder der Progressiven Allianz ist, will die Parteivizevorsitzende Hisyar Özsoy mit einer Delegation stellvertretend für Demirtas an dem Kongress teilnehmen und dort einen Brief übergeben.
Gabriels Initiative sieht auf den ersten Blick wie ein Akt der internationalen Solidarität aus. Der deutsche Außenminister will sich auch mit Blick auf den Wahlkampf von türkischen Regierungsvertretern, die in ihrem Land durch ein Präsidialsystem die faktisch bereits bestehende Diktatur festigen wollen, vor seinen sozialdemokratischen Freunden aus aller Welt als Kämpfer für Demokratie und Menschenrechte inszenieren.
Dieses Vorhaben steht jedoch im Widerspruch zur Politik, die Gabriel in den vergangenen drei Jahren als Bundeswirtschaftsminister betrieben hat. In dieser Zeit wurde das Regime in Ankara weiter aufgerüstet. Der Sozialdemokrat trug hierfür maßgeblich die Verantwortung. Entgegen seinem Versprechen, »insbesondere dort, wo Rüstungsgüter zur inneren Repression, schlimmstenfalls zur Verfolgung von Bevölkerungsgruppen missbraucht werden«, keine Genehmigungen erteilen zu können, lag die Türkei im ersten Halbjahr 2016 auf dem achten Platz der unrühmlichen Hitliste von Staaten, die aus der Bundesrepublik Kriegsmaterial erhalten.
Der Gesamtwert der Ausfuhren für den NATO-Verbündeten betrug in diesem Zeitraum rund 76 Millionen Euro. Fast zwei Drittel der Lieferungen betrafen Teile für Flugzeuge, unbemannte Luftfahrzeuge und Triebwerke. Zudem geht aus einer kleinen Anfrage der Linksfraktion hervor, dass deutsche Unternehmen im vergangenen Jahr 532 Revolver und halbautomatische Pistolen, eine Maschinenpistole, ein leichtes Maschinengewehr und einen Granatwerfer in die Türkei lieferten.
Erst kürzlich hat die Türkei eine neue Militäroffensive im Südosten ihres Landes gestartet, die sich gegen die PKK richtet. Ähnliche Maßnahmen trafen zuletzt aber vor allem die kurdische Zivilbevölkerung in Hochburgen der oppositionellen HDP. So wurden etwa Anfang des vergangenen Jahres im südostanatolischen Cizre ganze Stadtteile zerstört.
Ob bei Erdogans Krieg im eigenen Land auch Waffen aus Deutschland eingesetzt werden, konnte die Bundesregierung nicht ausschließen. Sie antwortete auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion im vergangenen Jahr, dass sie die türkische Regierung mehrfach dazu aufgerufen habe, »sicherzustellen, dass die türkischen Sicherheitskräfte in ihrem Vorgehen gegen Kämpfer der Terrororganisation PKK verhältnismäßig vorgehen und rechtsstaatliche Vorgaben einhalten«.
Die Kumpanei mit Diktatoren und Unterdrückern, die Gabriel einst bei der Sozialistischen Internationale verurteilt hatte, hat er nun selber jahrelang betrieben. Die von seinem Ministerium genehmigten Rüstungsexporte nach Nordafrika und in den Nahen Osten zeigen, dass die Türkei nur ein Beispiel von vielen ist. Ob Gabriel nach der Bundestagswahl weiterhin eine wichtige Rolle in der Bundespolitik spielen wird, ist noch nicht sicher. Er wird aber auf jeden Fall als Politiker in Erinnerung bleiben, der seinen in der Opposition formulierten Ansprüchen nie gerecht geworden ist.
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