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»Die Agenda 2010 war nicht falsch«

Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) über christliche Nächstenliebe und soziale Gerechtigkeit

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 9 Min.

Herr Woidke, Sie haben seit 2014 immer wieder gesagt, wer mit dem Christentum rechtfertigen wolle, muslimischen Flüchtlingen die Hilfe zu verweigern, der müsse eine andere Bibel haben als Sie. Ist die Bibel auch in anderen Fragen Richtschnur für Ihr politisches Handeln?
Es ist nicht so sehr die Bibel. Es sind mehr die Werte, die mir in meiner Kindheit vermittelt worden sind. Da geht es um Mitgefühl, Gerechtigkeit und darum, schwächeren Menschen zu helfen. Das ist ein roter Faden, der sich auch durch das Neue Testament zieht. Das ist ein Kernpunkt des christlichen Glaubens. Das passt gut zu der Politik, die wir hier in Brandenburg machen. Christlicher Glaube, Humanismus und Sozialdemokratie: Das passt gut zusammen.

Wie häufig besuchen Sie sonntags den Gottesdienst?
Leider viel zu selten, ich komme bedauerlicherweise nicht allzu oft dazu.

Zur Person

Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) kam am 22. Oktober 1961 in Naundorf bei Forst tief im Südosten Brandenburgs zur Welt. Er ist verheiratet, evangelisch, Vater eines Kindes. Woidke ist promovierter Agraringenieur, hat von 1982 bis 1987 an der Berliner Humboldt-Universität studiert, seinen Doktortitel 1993 erworben. Von 1990 bis 1992 hat er als Leiter der wissenschaftlichen Abteilung der Sano-Mineralfutter GmbH in Süddeutschland gearbeitet, 1993 trat er in die SPD ein. Abgeordneter des brandenburgischen Landtags ist der Politiker ununterbrochen seit 1994. Er war außerdem Agrarminister und Innenminister, zwischendurch auch SPD-Fraktionschef, bevor er im August 2013 das Amt des Ministerpräsidenten von seinem Genossen Matthias Platzeck übernahm. Woidke wurde anders als Platzeck eine Vorliebe für die CDU als Koalitionspartner nachgesagt, doch nach der Landtagswahl 2014 bildete er wieder eine rot-rote Regierung, die es in Brandenburg seit 2009 gibt. Woidke ist auch SPD-Landesvorsitzender. Mit ihm sprach für »nd« Andreas Fritsche.

Es wird zuweilen debattiert, ob der Islam zu Deutschland gehört. Gehört das Christentum zu Brandenburg?
Vieles in Brandenburg ist aus dem Christentum erwachsen, und das wirkt bis heute nach, auch wenn die Menschen nicht mehr so eng mit der Kirche verbunden sind. Dass Brandenburg ein weltoffenes Land ist mit vielen hilfsbereiten Menschen, das hat wahrscheinlich auch ein bisschen damit zu tun, dass die moralische Konstante der Religion immer vorhanden gewesen ist. Als es etwa darum ging, Flüchtlinge auch aus muslimischen Staaten aufzunehmen, da haben sich in ganz Brandenburg, und nicht nur in drei, vier oder fünf Orten, zahlreiche Einwohner gesagt: »Wir wollen helfen, wir können helfen, und wir müssen helfen.« Das ist eine ganz tolle Geschichte gewesen. Dies zeigt mir, dass die Werte, die das Christentum vermittelt, hier gelebt werden. Unabhängig davon, ob man ein gläubiger Christ ist.

Nach einer in ihrer Breite überraschenden Welle der Willkommenskultur in Brandenburg hat es auch eine Gegenbewegung mit flüchtlingsfeindlichen Aufmärschen und Brandanschlägen gegeben. Hat sich der Wind damit komplett gedreht?
Nein. Wir haben seit Anfang der 1990er Jahre einen großen Schritt nach vorn gemacht. Wir hatten große Schwierigkeiten mit dem Rechtsextremismus. Aber wir haben ihn deutlich geschwächt. Doch er ist nicht verschwunden. Welche Geisteshaltungen es leider weiterhin gibt, das haben wir 2015 und 2016 erlebt, als erst unterschwellig und dann auch offen rechtsextreme Positionen gezeigt worden sind - bis hin zu Angriffen auf Menschen. Oder die von Nazis angezündete Turnhalle in Nauen. Es ist eine Daueraufgabe, die Auseinandersetzung zu führen. Das war mir immer klar. Wir haben dagegen gehalten, und wir werden es weiterhin tun. Was aber heute von damals unterscheidet, ist: Wir haben jetzt eine stabile, sehr aktive und sehr wachsame Zivilgesellschaft. Überall sind Menschen bereit, sich zu engagieren, sich Rassisten in den Weg zu stellen und klar zu sagen: »Fremdenfeinde sind nicht die Mehrheit der Bevölkerung, sie sind nicht die Mitte der Gesellschaft, sondern am Rand und deutlich in der Minderheit.«

Reformator Martin Luther hat viel Wert auf den Glauben, doch wenig Wert auf soziale Gerechtigkeit im irdischen Leben gelegt. Aber schließt nach Ihrem Verständnis die ehrliche christliche Nächstenliebe den Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit mit ein?
Selbstverständlich. Das gehört zusammen. Und Luthers Verständnis muss man sicher auch immer aus seiner Zeit verstehen.

Aber entspringt Ihre Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit - ich unterstelle einmal, dass Sie diese Sehnsucht als Sozialdemokrat verspüren - entspringt die auch Ihrem christlichen Glauben oder hat das nichts miteinander zu tun?
Ich kann es gar nicht auseinander halten. Jedenfalls muss es aus meiner Erziehung im Elternhaus herrühren, dass ich fest davon überzeugt bin, dass es keine Menschen zweiter Klasse geben darf und dass jedes Kind die gleichen Chancen haben muss. Das versteht sich für mich von selbst. Da gibt es überall, auch bei uns in Brandenburg, viel zu tun. Obwohl wir schon viel gemacht und erreicht haben, insbesondere in den vergangenen sieben Jahren in der rot-roten Koalition.
Wir müssen es hinbekommen, dass Eltern und Großeltern sagen können: »Unseren Kindern, unseren Enkeln wird es einmal besser gehen als uns.« Bei der derzeit allgemeinen Weltlage muss man da manchmal sorgenvoll sein. Aber es geht darum, was wir machen können. So haben wir viel in die Kitas investiert, haben den Personalschlüssel deutlich verbessert. In Zukunft geht es darum, den Spagat zu schaffen, gleichzeitig die Qualität anzuheben, also den Betreuungsschlüssel weiter zu verbessern, und schrittweise die Elternbeiträge zu reduzieren. Perspektivisch soll bei den unter Dreijährigen statistisch auf drei Kinder eine Erzieherin kommen, und bei den Größeren acht Kinder auf eine Erzieherin, und die Eltern sollen für die Kitabetreuung weniger oder nichts dazu bezahlen müssen. SPD und LINKE sind sich absolut einig, dass Bildung von der Kita bis zum Uniabschluss kostenfrei sein müsste. Doch das kostet den Staat eine Menge Geld. Darum wird uns das auch nur Schritt für Schritt und in einem mittleren bis längeren Zeitraum gelingen.

Es gibt in der Bundesrepublik keine echte soziale Gerechtigkeit. Aus einfachen Verhältnissen können Kinder im gegenwärtigen Bildungssystem und bei den momentanen gesellschaftlichen Verhältnissen nur in Ausnahmefällen ganz nach oben aufsteigen. Ist das ein gottgegebener Zustand oder lässt sich das ändern? Die LINKE sieht als Heilmittel die Gemeinschaftsschule, die in Brandenburg Schulzentrum heißt. Was sagt die SPD?
Wir sagen, wo es Eltern und Schulträger wollen, können wir Schulzentren bilden. Wir werden das nicht von oben per Dekret machen. Das Schulsystem, das wir in Brandenburg haben, ist ein gutes System. Dieses System gänzlich in Frage zu stellen und eine neue Schuldebatte anzufangen, würde niemandem helfen. Darum: Da wo es gewünscht ist, gibt es Wege, wir unterstützen das auch finanziell. Aber nicht gegen den Willen der Eltern.

Keine Abschaffung der Gymnasien?
Nein, mit der SPD gibt es das nicht.

Gemessen an den Arbeitslosenzahlen und am Landeshaushalt geht es Brandenburg heute so gut wie nie seit 1990. Trotzdem sind die Menschen unglücklich und das Vertrauen in die Politik scheint erschüttert zu sein. Lassen wir uns von ausgewählten Zahlen blenden und übersehen dabei die echten Probleme?
Ihr verallgemeinerndes »die Menschen« stimmt sicher nicht. Neun von zehn Brandenburgerinnen und Brandenburgern geben an, gerne in ihrem Land zu leben. 2016 war für Brandenburg ein super Jahr, in dem wir unsere Position als erfolgreichstes ostdeutsches Bundesland gefestigt haben. Aber die guten Zahlen und Erfolge sind nicht für alle erlebbar. Das ist das Problem. Die Arbeitslosigkeit ist zwar runtergegangen, das Land hat Schulden zurückgezahlt, der Haushalt ist in Ordnung, die Zahl sozialversicherungspflichtiger Jobs hat zugenommen, wir haben das dritthöchste Wirtschaftswachstum bundesweit, den höchsten Lohnzuwachs. Trotzdem treffe ich öfter Menschen, die mir sagen: »Das ist ja schön mit eurer Statistik, aber ich habe nichts davon.«
Darum sind wir gut beraten, uns zu fragen: »Warum ist das so?« Häufig wird mir auch gesagt: »Ich bin eigentlich zufrieden. Aber ich mache mir große Sorgen. Meinen Kindern, meinen Enkeln wird es schlechter gehen.« Wir müssen die Fragen der sozialen Gerechtigkeit immer neben die Wirtschaftsdaten legen. Der Zulauf für flüchtlingsfeindliche Demonstrationen und die Zuwächse der AfD hängen auch mit einer sich seit vielen Jahren verstärkenden sozialen Spaltung zusammen. Die Reichen werden schlicht reicher. Die Millionenzahlungen, auch für wirtschaftliche Versager, sind ein Irrsinn. Ich bin da klar für gesetzliche Grenzen. Und im Steuersystem müssen wir kleine und mittlere Einkommen stärker entlasten.

Wie?
Die Agenda 2010 ist im Rückblick nicht falsch. Wir hatten seinerzeit eine andere Situation. Ich glaube, die Arbeitsmarktreform war damals wichtig und richtig. Aber heute machen wir nicht Politik für die Zeit vor 2010, sondern für die kommenden Jahre und Jahrzehnte. Deswegen müssen wir diskutieren, wie wir den Reichtum in unserem Land künftig gerechter verteilen können.

Das schließt für Sie Veränderungen an Hartz IV mit ein?
Ja, wenn es sinnvoll ist. Ich denke da an die laufende Debatte zu älteren Arbeitnehmern. Wenn jemand 30 oder 35 Jahre gearbeitet hat und erwerbslos wird, dann ist es vernünftig, ihn länger vernünftig abzusichern, für neue Arbeit zu qualifizieren und ihn nicht nach zwei Jahren abzustempeln und zu sagen: »Jetzt bist du ein Sozialfall und kommst da ganz, ganz schwer wieder raus.« Das sollte sich ein Land wie Deutschland nicht nur leisten können, sondern wir müssen uns das leisten.

Die letzte bekannte Umfrage zum Ausgang der Bundestagswahl in Brandenburg prognostizierte der SPD 19 Prozent. Damit würde sie elf Prozent hinter der CDU liegen und ein Prozent hinter der AfD. Doch mit einem Kanzlerkandidaten Martin Schulz, so ist anzunehmen, profitiert auch die märkische SPD vom Schulz-Effekt und steht wahrscheinlich wieder besser da. Hat Ihnen die Umfrage Sorgen bereitet?
Wir könnten ja als Sozialdemokraten zufrieden sein, dass es uns in Brandenburg fast immer gelang, rechtzeitig vor Wahlen das Blatt zu wenden. Das hat mich aber nicht beruhigt. Wir müssen besser werden, und wir werden auch besser. Ob wir es in Brandenburg schaffen, bei der Bundestagswahl an der CDU vorbeizuziehen, wird sich zeigen. Für solche Prognosen ist es zu früh. Aber wir werden alles dafür tun, dass es so kommt. Und ich bin dabei ganz optimistisch.

Die Brandenburger sind den Meinungsumfragen zufolge mit Ihnen und mit der Arbeit der rot-roten Regierung zufrieden. Dennoch hätte Rot-Rot derzeit keine Mehrheit mehr. Wie erklären Sie sich das?
Wir sind in der Mitte der Legislaturperiode. Wir haben uns komplizierte Dinge vorgenommen. Da rechne ich insbesondere die Kreisgebietsreform dazu, die zu Verunsicherung führte. Vor diesem Hintergrund kann die SPD mit ihren Umfragewerten um die 30 Prozent bei Landtagswahlen durchaus zufrieden sein. Was die LINKE betrifft, denke ich, dass es für den kleineren Koalitionspartner immer schwierig ist. Die LINKE hat mit uns gemeinsam viel von ihren eigenen Vorstellungen umgesetzt. Wir sind in vielen Fragen einer Meinung, befinden uns beispielsweise, was die Bildungsgerechtigkeit betrifft, in großer Übereinstimmung, wenngleich es in Detailfragen selbstverständlich auch unterschiedliche Ansichten gibt. Ich finde es gut, dass der LINKE-Landesvorsitzende Christian Görke und sein Team ruhig und gelassen auf die Umfragen reagieren.
Bis zur Landtagswahl können wir wieder bessere Werte erreichen. Bei der SPD ist noch ein bisschen Luft nach oben und bei der LINKEN sowieso. Wichtig für mich ist: Wir haben in der Koalition einen vertrauensvollen Umgang miteinander. Wir werden bis 2019 gut zusammenarbeiten.

Wenn es für Rot-Rot nach der Landtagswahl 2019 nicht mehr reichen sollte, was wäre Ihnen lieber: Rot-Schwarz oder Rot-Rot-Grün?
Die Wählerinnen und Wähler entscheiden. Wie immer werden wir ohne Koalitionsaussage ins Rennen gehen. Welche Koalition es dann gibt, kann ich heute nicht vorhersehen.

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