Schulz und die Hartz-Strafen
Was hat der SPD-Kandidat gesagt? Wie viele Sanktionen werden verhängt? Was sagen Experten und wie ist die Rechtslage? Die Fakten zur Nachricht
Kurz vor seiner anstehenden Wahl zum SPD-Chef hat Martin Schulz mit einer Interviewäußerung zu den umstrittenen Hartz-Sanktionen für Schlagzeilen gesorgt - und für Unmut bei Linkspartei und Grünen. Nachrichtenportale berichteten bereits, es sei nun auch Rot-Rot-Grün in Frage gestellt. Die Fakten zur Nachricht:
Was hat Martin Schulz gesagt?
Der SPD-Spitzenkandidat hatte unter anderem der »Rheinischen Post« ein Interview gegeben, in dem er gefragt wurde, ob er der Forderung des linken Parteiflügels der Sozialdemokraten zustimme, der sich dafür stark macht, »die Hartz-IV-Sanktionen abzuschaffen. Sind Sie dabei?« Schulz’ Antwort lautete: »Ich habe den Eindruck, dass dieses Thema ein bisschen überhöht wird. Bei den Sanktionen geht es ja nicht um Schikanen. Sondern darum, dass sich selbstverständlich auch Bezieher von Hartz IV an bestimmte Spielregeln halten und etwa verabredete Gesprächstermine einhalten.«
Die Zeitung machte daraus eine Vorabmeldung mit der Überschrift: »Schulz will an Hartz-IV-Sanktionen festhalten«. Wörtlich heißt es darin unter anderem, »damit« erteile der SPD-Spitzenmann »einer zentralen Forderung der Linkspartei eine Absage, die als möglicher Koalitionspartner der SPD nach der Bundestagswahl wiederholt ein Ende der Hartz-IV-Sanktionen gefordert hatte«. Nachrichtenagenturen verbreiteten dies am Freitag unter anderem mit einer Formulierung, die wie die Wiedergabe einer indirekten Rede des Sozialdemokraten erscheint: »Daher solle es bei den Sanktionen bleiben, wenn Leistungsempfänger ihren Verpflichtungen nicht nachkommen.« Zwar hat sich Schulz so direkt gar nicht gegenüber der Zeitung geäußert, die SPD ließ das Medienecho allerdings undementiert.
Wie reagierten Grüne und Linkspartei?
Der Grünenpolitiker Wolfgang Strengmann-Kuhn wurde von der Nachrichtenagentur AFP mit den Worten zitiert, »Schulz zeigt den Langzeitarbeitslosen und Aufstockern die kalte Schulter«. Und weiter: »Die Sanktionen müssen abgeschafft werden. Die Gewährung des Existenzminimums ist ein Grundrecht.« Die Vorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping, twitterte, eine »Gerechtigkeitswende« sei nur möglich, wenn man »Tschüss« zu den Hartz-Sanktionen sage. Schulz’ »Verteidigung der Sanktionen zeigt, wie wichtig starke LINKE ist«.
Die Linkspartei fordert bereits seit längerem ein Ende des Sanktionsregimes. Die Grünen hatten sich im vergangenen November auf einem Parteitag mehrheitlich für eine Abschaffung der Hartz-Strafen ausgesprochen - auf Antrag des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen: Die Sanktionen gefährdeten ein menschenwürdiges Existenzminimum und verhinderten, dass sich »FallbearbeiterInnen und Arbeitssuchende auf gleicher Augenhöhe begegnen können«.
Wie viele Sanktionen werden verhängt?
Laut Zahlen vom vergangenen Mai sind seit 2007 Sanktionen in einem Gesamtvolumen von 1,7 Milliarden Euro gegenüber Empfängern von Sozialleistungen verhängt worden. Allein 2015 habe die Summe 170 Millionen Euro betragen, die durchschnittliche Sanktionshöhe wurde laut Zahlen der Bundesagentur für Arbeit auf 108 Euro beziffert.
Aktuellste Daten gibt es für das Jahr 2016, in dem monatlich im Durchschnitt 134.390 Menschen von Leistungskürzungen betroffen waren. 2015 lag die Zahl mit 131.520 noch darunter. Den bisherigen Höchststand gab es 2012 mit 149.708 Sanktionen im Monatsdurchschnitt. 2016 lebten in jedem dritten der mit Sanktionen belegten Haushalte auch Kinder.
Laut Zahlen der Bundesregierung vom Februar 2017 wurden im vergangenen Jahr insgesamt über 945.000 Sanktionen gezählt, fast 239.000 betrafen unter 25-Jährige.
Von 50.805 gegen Sanktionen eingelegten Widersprüchen wurde 2016 über 18.500 ganz oder teilweise stattgegeben, das sind 37 Prozent.
Die Bundesagentur für Arbeit stellt hier Zahlen zu den Sanktionen zur Verfügung.
Wie ist die Rechtslage?
Die Sanktionen sind in den Paragrafen 31 bis 32 des Sozialgesetzbuches II geregelt. Man unterscheidet zwischen Strafen wegen einer »Pflichtverletzung« und solchen wegen »Meldeversäumnissen«.
Derzeit liegt ein so genannter Vorlagenbeschluss des Sozialgerichtes Gotha in Karlsruhe zur Entscheidung vor. Das Bundesverfassungsgericht soll prüfen, ob die geltenden Sanktionsregeln mit dem Grundgesetz und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar sind. Insbesondere geht es um die in der Verfassung verankerten Grundrechte auf unantastbare Würde, auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die Freiheit der Wahl einer Arbeit und die Sozialstaatlichkeit.
Ein erster Versuch des Gothaer Gerichts war im Mai 2016 in Karlsruhe zurückgewiesen worden, weil dieser »nur teilweise den Begründungsanforderungen« entsprochen habe. Das Gericht meinte aber schon damals, die Gothaer Initiative werfe »durchaus gewichtige verfassungsrechtliche Fragen auf«. Das Verfahren ist nun unter dem Zeichen 1 BvL 7/16 ist für 2017 in der Jahresvorschau des Bundesverfassungsgerichts aufgelistet.
Stellungnahmen zum Gotha-Vorlagebeschluss
Inzwischen sind Verbände und Experten zu Stellungnahmen gebeten worden. Die Diakonie kommt zusammenfassend zu dem Ergebnis: »Sanktionen sind menschenrechtlich fragwürdig und verschärfen soziale Ausgrenzung«. Ebenso liegt eine Stellungnahme des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge vor.
Der Erwerbslosenverein Tacheles hat auf 79 Seiten seine Auffassung dargelegt, nach denen die Sanktionen ein »Verstoß gegen das Völkerrecht, UN-Sozialpakt, Behindertenkonvention und gegen deutsches Verfassungsrecht« sind. Zudem habe »umfassend die Folgen von Sanktionen auf die Lebenswirklichkeit der Sanktionierten, die gesellschaftlichen Folgen, von Energie- bis Wohnungsverlust, bis hin zum Verlust der Krankenversicherung« aufgeführt - und hoffe so, »die Diskussion um die Unzulässigkeit von Sanktionen deutlich zu beflügeln«.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband kommt zu dem Ergebnis, »dass Sanktionen einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Rechte der Betroffenen darstellen. Die mit Sanktionen typischerweise verfolgten Ziele lassen sich besser auf anderen Wegen und mit milderen Instrumenten erreichen«.
Was sagen die Kritiker der Hartz-Sanktionen?
Schon im Jahr 2009 hatte sich ein »Bündnis für ein Sanktionsmoratorium« zu Wort gemeldet, in dem Sozialexperten, Gewerkschafter, Arbeitslosenaktivisten aber auch Künstler und Vertreter aus SPD, Grünen und Linkspartei für »ein sofortiges Moratorium, ein Aussetzen des Sanktionsparagrafen« plädierten. »Es geht hier nicht um Leistungsmissbrauch, sondern um Menschen, die auf die niedrigen Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind und denen man irgendein Fehlverhalten vorwirft. In den wenigsten Fällen ist dies die Ablehnung einer als zumutbar geltenden Arbeit«, hieß es damals bei dem überparteilichen Bündnis. »Die meisten Sanktionen werden verhängt wegen Konflikten um Meldetermine, um die Anzahl von Bewerbungen, um Ein-Euro-Jobs und andere Maßnahmen wie z.B. Bewerbungstrainings und Praktika. Sanktioniert werden auch nachvollziehbare Handlungen, die bei korrekter Rechtsanwendung nicht sanktioniert werden dürften.«
Immer wieder haben sich Bündnisse gegen die Sanktionen gewandt. Aktuell zu nennen ist unter anderem die Initiative »Sanktionsfrei«, die sich als »eine Kombination aus digitaler Beratungsstelle, Rechtshilfefonds und Kampagne« sieht und unter anderem vom frühere griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis und der als »Jobcenter-Rebellin« bekannt gewordenen Inge Hannemann unterstützt wird.
Was sagen die Befürworter?
Die Grundlinie der Bundesregierung folgt aus dem Grundsatz »Fördern und Fordern«: Ohne »Mitwirkungshandlungen der leistungsberechtigten Person kommen Sozialrechtsverhältnisse nicht zustande und können auch nicht zum Erfolg geführt werden. Es ist deshalb anerkannt, dass in der Grundsicherung für Arbeitsuchende eine leistungsrechtliche Reaktion eröffnet sein muss, wenn Leistungsberechtigte ihren Pflichten nicht nachkommen. Vorliegende wissenschaftliche Erkenntnisse können als Indiz dafür angesehen werden, dass sanktionierte Personen sich stärker um eine Beschäftigung bemühen.«
Zuletzt wurde auch auf eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAB verwiesen, nach denen Leistungskürzungen bei jüngeren Hartz-IV-Beziehern zu einer schnelleren Arbeitsaufnahme führten. Hierin besteht auch eines der Kernargumente der Bundesregierung, die nach dem Prinzip »Fördern und Fordern« auf Druck setzt, damit sich Erwerbslose eine Lohnarbeit suchen. Die erst wenige Wochen alte IAB-Studie warnt allerdings auch vor »unerwünschten Nebenwirkungen«, da der »Anreiz zum Rückzug aus dem Arbeitsmarkt zunimmt«.
Interessant ist zudem ein weiterer Hinweis der Forscher: Bei den von Sanktionen Betroffenen fällt »der Lohn bei einer Beschäftigungsaufnahme im Durchschnitt geringer aus als bei den Nicht-Sanktionierten«. Vor dem Hintergrund solcher Forschungsergebnisse hält das IAB »eine Reform des Sanktionssystems denkbar, die sehr einschneidende Leistungsminderungen durch Sanktionen vermeidet, aber Anreize zur Arbeitsuche aufrechterhält«.
Regierung spricht von Akzeptanzproblemen
Die Große Koalition hat sich in der zu Ende gehenden Legislaturperiode nicht auf eine Änderung bei den Hartz-Strafen für unter 25-Jährige einigen können, dies war das Ziel der SPD. Das Arbeitsministerium hat ein »Konzept zur Weiterentwicklung des Sanktionenrechts in der Grundsicherung für Arbeitsuchende« vorgelegt, in dem selbst zahlreiche Zweifel an der Praxis aufgelistet sind.
Die Strafen »werfen in der Verwaltungspraxis … eine Reihe von Akzeptanzproblemen auf«, heißt es da. Man stelle bei den Betroffenen »ein mangelndes Verständnis für das gesetzliche System« fest. Mitarbeiter in den Jobcentern empfinden »das Sanktionenrecht im Einzelfall als zu hart«, es wird auf Forderungen »nach größeren Ermessensspielräumen« verwiesen. »Auch beruht eine fehlende Akzeptanz auf Zweifeln an der Wirkung von Sanktionen … für die Eingliederungsprozesse«.
Auch in den Jobcentern gibt es Befürworter der Hartz-Strafen: »Grundsätzlich halte ich Sanktionen im Bereich der Grundsicherung für richtig und wichtig«, wurde unlängst Sebastian Koch von der Gewerkschaft der Sozialversicherung in Medien zitiert. nd
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.