Fest des Widerstands im Ausnahmezustand
Newroz, der kurdische Neujahrstag, ist 2017 in der Türkei auch Fanal für ein »Nein« beim Referendum
»Wir feiern trotzdem!«, heißt es im Aufruf der türkischen Kurden für Newroz. Das traditionelle Neujahrsfest am 21. März findet auch in diesem Jahr statt - trotz oder gerade angesichts des zunehmend aggressiven Wahlkampfes für ein »Evet« (Ja) beim anstehenden Referendum und der anhaltenden Repression durch den türkischen Staat. Seit jeher hat Newroz für die kurdische Bevölkerung neben der Bedeutung als Einleitung des neuen Jahres auch den Charakter des sichtbaren und kraftvollen Widerstands gegen Unterdrückung.
In Van, der zweitgrößten Stadt im kurdischen Teil der Türkei, ist das Newroz-Fest offiziell erlaubt, wie auch in 31 weiteren Städten. Zahlreiche andere Feierlichkeiten aber wurden verboten. Seit Dienstagmorgen versammeln sich auf dem Festplatz der reichlich 350 000 Einwohner zählenden Provinzhauptstadt Zehntausende Menschen, die Sonne scheint, allerdings bei eisiger Kälte. Sie schwenken Fahnen und tanzen Halay, eine Tradition bei Festen und Feierlichkeiten.
Was wie ein friedliches, fröhliches Fest anmutet, ist mindestens ebenso sehr eine politische Aussage: »Inadina« - trotz allem - lassen wir uns nicht unterkriegen. Immer wieder werden deshalb auch politische Parolen angestimmt.
Dieses »Trotz allem!« hat es in sich. In den vergangenen neun Monaten seit dem gescheiterten Putschversuch und der Verhängung des Ausnahmezustands wurden beinahe die gesamte kurdische Zivilgesellschaft und ihre Organisationen zerschlagen. Teilnehmerinnen am »Kongress der Freien Frauen« berichten, wie seit dem Verbot ihrer Organisation im Oktober ihre Vereinsräume und Gelder beschlagnahmt, Frauenhäuser enteignet und Bildungsangebote für Frauen eingestellt wurden: »Sie haben selbst den Frauennotruf geschlossen.« In den Häusern, die für Treffen von Frauen errichtet wurden, befinden sich nun Koranschulen.
Zeitgleich wurde auch der ÖHD, ein Anwaltsverein, verboten. Rechtsanwalt Mahmut Kacan berichtet, wie schwierig es derzeit ist, den Beruf angesichts der Instrumentalisierung der Justiz durch die Regierung auszuüben. Verhaftete Personen hätten in den ersten fünf Tage nach der Festnahme im Polizeigewahrsam keine Kontaktmöglichkeit nach außen. Mittlerweile häufen sich die Fälle, in denen den Anwälten mitgeteilt würde, die Gefangenen wünschten keine anwaltliche Vertretung - für die Rechtsvertreter ein starkes Indiz für Folter in der Haft. Körperliche Spuren der Folter sollen nicht nach außen dringen, auch deshalb die faktische Kontaktsperre. Dies geschehe inzwischen systematisch, sagt Kacan: »Wir haben es derzeit sehr schwer, über all diese Menschenrechtsverletzungen, die in der Region stattfinden, überhaupt zu berichten.« Es sind schlichtweg zu viele.
Für die kurdische Bevölkerung ist diese Situation nicht neu: »Wir haben hier seit Jahrzehnten Ausnahmezustand«, hört man von Anwälten, Journalisten und Menschen auf der Straße. Aufgrund ihrer Geschichte der Unterdrückung haben die Vereine und Parteien eine gewisse Routine darin, nach einem Verbot unter einem neuen Namen ihre Arbeit fortzusetzen. Auch das werde gegenwärtig aber immer weiter erschwert, die Repressionen seien umfassender geworden.
So erzählen Journalisten der ebenfalls verbotenen kurdischen Nachrichtenagenturen DIHA und JINHA - eine reine Frauennachrichtenagentur -, dass auch anderweitig Pressionen ausgeübt würden: »Sie drohen den Druckereien, nehmen den Auslieferern die Druckerzeugnisse ab und kontrollieren die Listen der Empfänger« berichtet eine junge Journalistin. Die Abonnenten von kurdischen Zeitungen erhielten dann oftmals Besuch von der Polizei.
Ebenso würden Zeitungskioske kontrolliert, in denen auch andere als regierungstreue Zeitungen ausliegen. So sei der Vertrieb beinahe gänzlich unmöglich gemacht worden. Die Repressionsmaßnahmen gegenüber den Medien, fügt ein Kollege hinzu, wären allerdings seit etwa zwei Monaten wieder etwas gelockert worden. Ein Grund dafür wird hier darin gesehen, dass die regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung möglicherweise den Eindruck gewonnen habe, dass die kurdische Bewegung schon sehr geschwächt sei; so sehr, dass deren öffentliche Wahrnehmung keine Gefahr mehr darstelle.
Eindrücklich schildert auch eine Redakteurin von JINHA die gegenwärtige Verfassung der Gesellschaft in den kurdischen Gebieten. Große Teile der Bevölkerung, berichtet sie uns, seien so verängstigt, dass sie nicht mehr mit Journalisten reden wollen: »Wir erhalten kaum noch Informationen«, klagt sie. Viele Menschen erfahren die Willkür des Staates am eigenen Leib und haben Angst.
So berichtet ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung, dass wöchentlich neue Listen von Angestellten erstellt würden, die zu entlassen seien: »Kein Kollege weiß, ob er in der nächsten Woche noch auf der Liste der beschäftigten steht und Lohn erhält.« Zugleich mit der Entlassung werde in aller Regel auch die Ausreise untersagt und oft sogar das Vermögen beschlagnahmt.
Die Stadtverwaltung in Van wie in fast allen anderen kurdischen Städten steht seit dem Herbst unter Zwangsverwaltung. Die Bürgermeister der Demokratischen Partei der Regionen (DBP) und andere Kommunalpolitiker sind sowohl auf Bezirks- als auch auf Stadtebene entlassen und größtenteils auch verhaftet worden. Die DBP ist die mit Abstand größte Organisation innerhalb der HDP, der kurdisch-linken Demokratischen Partei der Völker.
Zum Terror hinzu kommt ein veritabler Bildungsnotstand, nachdem allein in den kurdischen Städten nach Angaben des lokalen Co-Vorsitzenden der Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen Tausende Lehrer entlassen worden seien. Schulklassen seien überfüllt, viele Kinder haben gegenwärtig gar keinen Unterricht mehr. Der Ausnahmezustand hat damit auch gravierende Folgen für die Zukunft.
So ist Newroz auch heute weit mehr als nur eine Feier des anbrechenden Frühlings. Es ist auch eine Gelegenheit, sich gegenseitig zu versichern, dass man sich nicht unterkriegen lässt. Und auch, dass man beim Referendum am 16. April mit »Hayir« (Nein) stimmen wird.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.