Überwältigende Genialität

Das Werk von Camille Claudel in der Rostocker Kunsthalle

Wenn man über Camille Claudel zu schreiben beginnt, muss man sich entschieden haben: Will man das sich gegen die Einengung des Jahrhunderts sich kompromisslos zur Wehr setzende Opfer einer Männergesellschaft in den Mittelpunkt rücken? Oder das künstlerische Werk der von Erfolgen und rauschhaft ausgekostetem Schaffensglück verwöhnten Bildhauerin? Die Widerspiegelung ihres Lebensgeschicks im hinterlassenen Werk legt Ersteres nahe. Camille Claudel, nachdem sie sich qualvoll aber zielstrebig aus der emotionalen und künstlerischen Abhängigkeit von Rodin befreit und an einem Höhepunkt ihrer ganz selbstständigen künstlerischen Ausdrucksweise angelangt war, wurde in ihrer Isolierung trotz ihrer durchaus verkäuflichen Werke von nackter Geldnot heimgesucht. Von 1913 bis zu ihrem Tode 1943 - die beide Weltkriege einschließend! - wurde Camille Claudel (es heißt, ihre Mutter habe zu diesem Zwecke einen Arzt bestochen) - wegen Verfolgungswahn unrettbar in eine geschlossene Psychiatrie eingesperrt. Wie Camille Claudel ihre Berufung Bildhauerin gegen die damals unumstößlich geltenden Regeln durchsetzte, wie sie sich vom großen Meister emanzipierte, so gehört sie zu den Persönlichkeiten der Moderne. Sie lässt das 19. Jahrhundert hinter sich, dem sie aber in ihrer bildnerischen Ausdrucksweise mit dem erzählerischen, ja plaudernden, illustrativen Charakter ihrer Bildvorwürfe noch ganz verhaftet ist. Sie ist gerade 18 Jahre alt, als die Gesellschaft französischer Künstler mit einer konservativen Jury ihrer naturalistisch geformten (was damals nicht geschätzt wurde) Porträtplastik »Die alte Helene« (eine Bedienstete ihres Elternhauses) zum ersten Male das Tor zum »Salon« im Palais des Champs Elysées für sie öffnet. Im folgenden Jahr trifft Camille Claudel auf den um 24 Jahre älteren Auguste Rodin, der um diese Zeit am »Höllentor« und an den »Bürgern von Calais« arbeitete, sofort die außerordentliche Begabung Camille Claudels erkennt, sich leidenschaftlich in sie verliebt und sie zu seinem Model, seiner Geliebten, Gehilfin - und Rivalin macht. Auch Camille Claudel ist ihm verfallen, beide bildhauerische Arbeiten greifen ineinander, beide lernen voneinander. Camille Claudel hat Anteil an beiden genannten Hauptwerken Rodins, der aber ein schriftliches Eheversprechen nie einlösen wird, sondern seine Geliebte zur Abtreibung ihres gemeinsamen Kindes zwingt und bei seiner bisherigen Konkubine bleibt. Damit ist genug explosiver Konfliktstoff vorhanden zwischen einer kraftvoll, aber verfrüht emanzipierten, ungewöhnlich begabten, sensiblen, impulsiv-leidenschaftlichen Camille Claudel und einem gerade nach dem Ruhm des Jahrhundert-Bildhauers greifenden, gesellschaftlich eingebundenen Rodin. Camille Claudels Gesamtwerk markiert, wie schon angedeutet, einen frühen, in sich widersprüchlichen Aufbruch in das Zeitalter der Avantgarden. Symbolismus, Naturalismus, Impressionismus und Jugendstil kreuzen sich in Andeutungen. Die erstgenannte geistige Strömung, noch sehr in der literarischen Vergangenheit fußend, hat Camille Claudel in großen, lebensgroßen mythologischen Gruppen gestaltet, in denen sich vornehmlich der großbürgerliche Zeitgeist ausdrückt: »Sakuntala«, »Das reife Alter«, »Die Wahrheit«, »Der entflogene Gott«, »Der Walzer«, »Perseus und die Gorgo«. Damit erweist sie sich an geistig und handwerklich komplizierten Aufgaben, die die Rostocker Ausstellung beherrschen, als sichere, fast routinierte Figurenplastikerin mit Fabulierlust und Formfantasie. Was konnte sie bei Rodin denn noch lernen? Sie konnte sich in ihrer starken Neigung zu gängigen Allegorien bestätigt fühlen, wobei sie ihn bei der Auflösung der Volumina und Gruppen durch Überschneidungen, Bewegungszüge, räumliche Beweglichkeit fast futuristischen Geistes gedanklich und technisch übertraf, was aber auch erst in der nächsten Generation positiv gewertet wurde. An einigen Exponaten sieht man, wie Camille Claudel vom Formgefühl des Impressionismus berührt war und kultivierte, was andere Bildhauer fürchten: dass die Spiegelungen auf den oft geradezu nervös bewegten Oberflächen die Räumlichkeit und plastische Wirkung aufheben, zum Beispiel bei nichtfigurativen Partien (»Walzer«, »Frau, einen Brief lesend«, »Torso der kahlköpfigen Klotho«). Auch bei besonders ausdrucksstarken Porträtbüsten (»Auguste Rodin«, »Paul Claudel mit 37 Jahren«, »Giganti«, »Das Gebet«) ebnet die bewegte, zerklüftete Oberfläche die Plastizität ein, wobei man die mit dem weichem, feuchten Ton spielenden zarten Mädchenhände modellieren zu sehen meint. Dass die grazilen Hände aber auch die Kraft hatten, einige große Figurenkompositionen aus dem Marmor zu schlagen und nicht müde wurden, anspruchsvollste Bildhauerarbeiten in mehreren Varianten auszuführen (wie den »Walzer«) bezeugt die Gründlichkeit und Professionalität einer Bildhauerin, die immer etwas ganz anderes war, als das Anhängsel eines Größeren - nämlich das, was Rodin beim ersten Kennenlernen der Arbeiten der Camille Claudel über sie s...

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