London bleibt unerschrocken
Keine Freiheits-Phrasen, aber viele Fragen
»Der Terror kann gegen die Demokratie nicht gewinnen, London geht seiner Arbeit nach.« So lautet das Wort des Tages danach in London. In der Tat: Unschuldige Menschen, darunter der unbewaffnete Polizist Keith Palmer, sind ermordet worden. Der Täter wurde aus Notwehr erschossen. Weitere Opfer schweben in Lebensgefahr - aber die Welt ist keineswegs untergegangen.
Premierministerin Theresa May ging in einer ersten Stellungnahme sofort zum Grundsätzlichen über. Der »kranke, verdorbene« Attentäter habe mit dem Parlamentsgebäude auch Demokratie, Freiheit, Menschenrechte und Rechtsstaat angegriffen.
Der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan - selbst moslemischen Glaubens - kündigte eine Mahnwache um 18 Uhr am Trafalgar Square an und erklärte weniger pathetisch als May: »Wir stehen zusammen gegen den Terror, ungebeugt und unerschrocken.« Der stellvertretende Parlamentspräsident Lindsay Hoyle kündigte eine Sondersitzung des parlamentarischen Sicherheitsausschusses an. Eine Schweigeminute - und das Parlament tagte weiter.
Denn die britische Hauptstadt kennt sich mit Attentaten aus, nicht erst seit den U-Bahn- und Bus-Morden vom 7. Juli 2005. Auch die 20-jährige Kampagne der Irischen Republikanischen Armee (IRA) hatte in der City und deren Außenstelle Canary Wharf furchtbare Folgen: Politiker wie Airey Neave, aber zumeist Unbeteiligte aus aller Herren Ländern wurden ermordet.
Aber nein, »sinnlos«, wie oft behauptet, sind solche Untaten nicht. Es geht den Verantwortlichen durchaus um die dadurch erzielte öffentliche Wirkung, es geht um eine »traurige Berühmtheit«. So schreibt Brendan Cox, Witwer der in ihrem Wahlkreis von einem Neonazi ermordeten Abgeordneten Jo Cox, mit Recht.
Auch der Publizist Simon Jenkins meint in einem BBC-Interview, man solle das Verbrechen nicht unnötig in allen Fernsehkanälen auswalzen. Weitere Interviewpartner wie der ehemalige Bürgermeister Ken Livingstone und der Bradforder Friedensforscher Paul Rogers warnen vor Angriffen auf Moslems und Moscheen. Genau solch ein Hochschaukeln der Spannungen sei von Terroristen angestrebt. 2005 haben Londoner unter Livingstone ruhig Blut bewahrt. Sadiq Khan - von Trump-Sohn Donald Junior mithilfe eines verzerrten Zitats beschimpft - fordert bei der Mahnwache wohl das Gleiche.
Nizza und Berlin haben gezeigt: Ein Lastwagen oder Auto sind nicht nur Verkehrsmittel, sie können auch tödliche Waffen sein. Stadtzentren sind öffentliche Zonen, auch mit Schutzmaßnahmen nie hundertprozentig gegen Extremisten zu verteidigen. Der »Stahlring« um die Bank of England in den 1990er Jahren brachte die IRA zunächst dazu, stattdessen »Weichziele« wie einen Doppeldeckerbus anzugreifen. Unter dem vor vier Tagen verstorbenen Martin McGuinness beschritt sie jedoch später den friedlichen politischen Weg. Der von Nordirland auf britische Großstädte übergreifende Bürgerkrieg fand 1998 ein Ende. Eine ähnliche Aussicht zeigt sich beim Islamischen Staat (IS), der sich der Tat gerühmt hat, noch nicht.
Ein weiteres Problem stellt die alleinige Täterschaft des Mörders dar. Gruppen sind von der Polizei zu infiltrieren, bei Einzelnen entfällt diese Möglichkeit. Ob die acht während der Razzien in Birmingham und London über Nacht Verhafteten wirklich Hintermänner sind, die wesentliche Informationen zur Aufklärung beitragen können, stand noch nicht fest.
In ihrer Unterhaus-Stellungnahme gab Premierministerin May zu Protokoll, der Täter sei vor Jahren der Polizei bekannt gewesen, aber nachher aus ihrem Blickfeld wieder verschwunden. Es ist sicher eine Frage des Ermessens, wann jemand aufhört, gefährlich zu sein. Keine Polizei der Welt kann alles über jeden wissen: Britannien soll kein Polizeistaat werden und zu bezahlen wäre das auch nicht.
Andererseits verbreitete die politische Korrespondentin der BBC Laura Kuenssberg in der Sendung »Daily Politics« die noch unbestätigte Nachricht, der Mörder sei nicht von Parlamentsschützern, sondern vom zufällig anwesenden Leibwächter des Verteidigungsministers erschossen worden. Was wäre also, wenn kein Unterhaus-Hammelsprung angesagt gewesen wäre oder Sir Michael Fallon gerade einen Regimentsbesuch absolviert hätte?
Fragen über Fragen. Sie gelten aber praktischen Dingen und sind nicht mit Phrasen über Freiheit und Demokratie zu beantworten. Das gilt auch für das Problem, wie Internet-Botschaften der Extremisten schneller aus dem Netz genommen werden können, um die Radikalisierung anfälliger Islamisten zu erschweren. Da seien Google, Facebook und andere gefragt, meint der frühere Labour-Minister Liam Byrne. Das Fazit aber bleibt: Ruhe und auch gut überlegte, international koordinierte Gegenmaßnahmen sind erste Bürgerpflicht.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.