Tendenzieller Fall

Wachstum und Produktivität schwächeln. Und Digitalisierung hilft auch nicht gegen das Nachfrageproblem. Ein Zurück zum kapitalistischen »Immer mehr« ist keine Lösung.

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 8 Min.

»Der Sozialismus hat den Systemwettbewerb mit dem Kapitalismus verloren«, so beginnt ein aktueller Radioessay von Hans-Werner Sinn. Der Ökonom ist umstritten, auch, weil der »Boulevardprofessor« oft als eine Art Bauchredner der Kapitalinteressen wirtschaftspolitische Entscheidungen mitbeeinflusst hat. Sinns Radioessay sollte man dennoch anhören - so, wie die ganze, von Matthias Greffrath kuratierte Reihe im Deutschlandfunk, deren Beiträge jetzt auch gedruckt vorliegen.

Ein Grund ist: Es geht um die Frage, was uns Marx heute noch zu sagen hat. Und die interessanteren Antworten darauf kommen mitunter ja gerade von denen, von denen man es nicht erwartet. Sinn zum Beispiel. Der andere Grund ist, dass der Kapitalismus schwächelt. Das Wachstum lahmt, die Produktivität ebenso. Die industrielle Akkumulation stockt. Experten diskutieren über Investitionsschwäche und Unterkonsumtion.

Wie erklärt sich das? Sinn hat hierzu auf Marxens seiner Ansicht nach »wichtigsten« Beitrag zur Entwicklung der Volkswirtschaftslehre hingewiesen: die Krisentheorien, die sich unter anderem mit dem Problem der Unterkonsumption beschäftigen, sowie jener vom »tendenziellen Fall der Profitrate«.

Laut Marx fällt der Gewinn im Verhältnis zum Einsatz von Kapital, weil sich dessen organische Zusammensetzung erhöht, also immer mehr Kapital pro Arbeiter angehäuft, aber nicht proportional mehr verdient wird. Irgendwann müsste dann ein Punkt erreicht werden, »an dem die Rendite für die Unternehmer zu gering sei, als dass sie neue Investitionen wagen würden«, wie es Sinn in der Sprache seiner Schule formuliert. Und weiter: »Heute zeigen sich deutliche Anzeichen für langfristig fallende Kapitalrenditen.«

Sinn schlägt hier nun eine Brücke zur Diskussion um die »Säkulare Stagnation«, die seit einiger Zeit unter Ökonomen wieder aufgegriffen wurde. Sie bezeichnet eine lang anhaltende Phase (saeculum = Jahrhundert), in der kein oder nur schwaches Wirtschaftswachstum herrscht, zudem ist die ökonomische Lage von tiefen Realzinsen und niedriger Inflation geprägt.

Spätestens seit der großen Finanzkrise ab 2008 ist all das nicht mehr zu übersehen. Experten sind sich sowohl über die Gründe dafür uneins als auch über die richtigen Schlussfolgerungen, wobei »richtig« immer eine Frage der Interessenlage ist. Der linke Ökonom Michael Wendl etwa meint, dass die These von der »Säkularen Stagnation« nicht überzeugen könne. »Letztlich erklären die hohen Ungleichheiten in der Einkommens- und Vermögensverteilung am überzeugendsten die schwache Entwicklung der gesamten Nachfrage. Diese führt wiederum zu einer nachlassenden Investitionsdynamik und einer tendenziell stagnierenden wirtschaftlichen Entwicklung.« Darauf kommen wir noch einmal zu sprechen.

Aber zurück zu Hans-Werner Sinn. Der sieht in der These von der »Säkularen Stagnation«, deren Ursprünge bis in die 1930er Jahre zurückreichen, eine große Ähnlichkeit zu Marx‘ »Theorie vom tendenziellen Fall der Profitrate«. Der wichtigste Unterschied, so Sinn, liege in den Schlussfolgerungen: Die »modernen Autoren« würden »als Konsequenz nicht den Systemwechsel« fordern, »sondern eine nachfragestimulierende staatliche Budgetpolitik«. Das gefällt Sinn nicht, der eher pikiert anmerkt, dass der ehemalige Finanzminister der USA, Lawrence Summers, nun sogar »einer Überwindung oder Abschaffung gesetzlicher Schuldengrenzen das Wort« rede.

Die Welt wäre einfach, wenn alle Probleme schon mit »nachfragestimulierender staatlicher Budgetpolitik« überwunden werden könnten. Das ist aber nicht so. Ein Kapitalismus ohne Wachstum als »neue Normalität« stellt auch denen ein paar komplizierte Denkaufgaben, die genau darauf setzen: nachfrageorientiertes Gegensteuern, das eine deutliche Verteilungswende mit sich bringen müsste. Wirtschaftswachstum war eine lange Zeit »die zentrale Ressource für eine Moderation struktureller Ungleichheiten«, schreibt der Soziologe Oliver Nachtwey. Was aber, wenn sich die Periode der ersten dreißig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, also »das Goldene Zeitalter des Nachkriegskapitalismus«, in dem Wachstumsraten von mehr als fünf Prozent nicht selten und zugleich das Fundament für die soziale Integration und Einhegung des Marktes waren, als »historische Ausnahmekonstellation« herausstellt?

Die Probleme sind nicht erst seit 2008 sichtbar. Der erlahmenden Wachstumsdynamik versuchte man »zunächst mit dem keynesianischen Instrument der Nachfragesteuerung« beizukommen, daran erinnert Nachtwey, Mitte der 1970er Jahre bewirkten diese aber immer weniger. Es setzte, befeuert von Leuten, die daran ein Interesse haben, »eine Epochenwende ein, aus der später ein ›Erdrutsch‹ werden sollte«, so Nachtwey. »Es begann eine ›Revolte des Kapitals‹ gegen die soziale und demokratische Einhegung des Kapitalismus.«

Doch letztlich konnten weder der Neoliberalismus noch die Finanzialisierung des Kapitalismus das Versiegen der Wachstumskräfte aufhalten. Nachtwey verweist auf ein zusätzliches Problem: Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass mit den Versuchen, »neues Wachstum zu erzeugen«, in aller Regel ökologische Probleme und Ressourcenverbrauch verbunden sind. Aber »die in allen Industrieländern gemachten Anstrengungen, mehr Wachstum zu erzeugen, unterlaufen zumeist das gewachsene Bewusstsein für nachhaltiges Wirtschaften«.

Hinzu kommt, worauf der Ökonom Karl Georg Zinn in seinem jüngsten Buch hingewiesen hat: »Ein Kapitalismus ohne Wachstum wirft die Frage auf, ob sich katastrophenartige Krisen einstellen werden oder vermeiden lassen«; Zinn hält eine soziale Variante eines »Kapitalismus ohne Akkumulation« zwar für möglich, eine »oligarchische« aber ebenso - und in der gibt es dann nicht nur noch mehr Ungleichheit und Marktradikalismus, sondern das blinde Wachstumsparadigma würde weiter Geltung haben, mit den entsprechenden Folgen.

Zinn plädiert deshalb für eine Debatte darüber, wie »das noch verantwortbare Wirtschaftswachstum auf die für das Überleben der Menschen vorrangigen Aufgaben zu konzentrieren« sein könnte: »Minderung der Weltarmut bis zu ihrer Eliminierung, Beenden der Naturzerstörungen, Regeneration der Umwelt, Friedenssicherung, globale Rechtsstaatlichkeit«. Das werde nur gehen, wenn sich die wohlhabenden Länder »bewusst auf eine Zukunft ohne Wachstum einstellen und ihre sozialökonomischen Probleme verteilungspolitisch lösen«.

Wie ginge das? Das bleibt eine jedenfalls in der Praxis bisher nicht beantwortete Frage. Der Soziologe Stephan Lessenich hat mit seinem neuen Buch »Neben uns die Sintflut« die Debatte noch um einen Punkt erweitert - die Verankerung des Wachstums der kapitalistischen Zentren »in den Strukturen und Mechanismen kolonialer Herrschaft über den Rest der Welt« und eine »Reichtumsproduktion auf Kosten und um Wohlstandsgenuss zu Lasten anderer, um die Auslagerung der Kosten und Lasten des ›Fortschritts‹.«

Das ist nicht neu, aber es braucht in Zeiten neue Antworten, in denen Wachstum doppelte Grenzen hat: ökologisch und ökonomisch. Womit wir wieder bei der »Säkularen Stagnation« wären. Der Ökonom Fabian Fritzsche hat darauf hingewiesen, dass »ein wesentlicher Grund« für das erlahmende Wirtschaftswachstum »das deutlich verlangsamte Wachstum der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter« sei. Lag dieses in den 1960er und 1970er Jahren zum Beispiel in den USA bei über 1,5 Prozent im Jahr, seien es nun nur noch knapp über 0,5 Prozent Wachstum - in Europa liegen die Werte noch darunter. Die Bevölkerungsentwicklung schlägt auf die schwächelnden Wachstumsraten durch, erklärt diese aber allein nicht schon.

»Weitaus problematischer ist das insbesondere in Europa nachlassende Produktivitätswachstum«, schreibt Fritzsche. Dieses hat sich seit den späten 1960er Jahren beinahe stetig verringert, in einigen Nationalökonomien ist es bereits zum Erliegen gekommen. Experten debattieren schon seit längerem über die Gründe für das, was unter Berufung auf den Ökonomen Robert Solow »Produktivitätsparadoxon« genannt wird: »Wir sehen das Computerzeitalter überall, außer in den Produktivitätsstatistiken.«

Warum ist vom »ganzen technischen Fortschritt, der Vernetzung, der Automatisierung praktisch nichts in den gesamtwirtschaftlichen Zahlen zu sehen«? Fritzsches Antwort: die mangelnde Investitionstätigkeit. »Ohne Investitionen in neue Maschinen und neue Technologien kann der theoretisch mögliche Fortschritt aber nicht realisiert werden.«

Nun stellt sich aber die Frage nach dem Warum - und zwar deshalb in verschärfter Form, weil eben diese Investitionsschwäche unter neoliberaler Ägide »mit einer Zeit deutlich sinkender Unternehmenssteuern und Spitzensteuersätze in der Einkommensteuer korreliert, die doch gerade mit dem Argument gesenkt wurden, die Investitionstätigkeit zu beleben«.

Der springende Punkt ist: Die geringere Belastung für Unternehmen und Spitzenverdiener wurde »mit höheren staatlichen Defiziten, geringeren öffentlichen Investitionen, einer höheren Belastung der Mittelschicht und weniger Sozialleistungen« erkauft, was auf den Konsum und öffentliche Investitionen drückte. »Der Schluss liegt nahe«, so Fritsche, »dass diese nachfrageseitigen Belastungen die vermeintlichen angebotsseitigen Vorteile für die Unternehmen mehr als kompensiert und so eine dauerhafte Investitionsschwäche erwirkt haben.«

An dieser Stelle setzt der Soziologe Philipp Staab an, der sich die »falschen Versprechen« vom neuen »Wachstum im digitalen Kapitalismus« vorgenommen hat: Als Hauptproblem identifiziert er die schwächelnde Nachfrage. »Finanzpolitische Maßnahmen zur Stimulierung der Nachfrage, die globale Expansion von Absatzmärkten und die Finanzialisierung der Ökonomie« hätten das Konsumtionsproblem aber bisher nicht gelöst. Auch technische und organisatorische Umstrukturierungen der Produktionsapparate hätten »das fordistische Gespann aus Massenproduktion und Massenkonsumtion« nicht wieder in Tritt bringen können.

Zugleich sorgte technischer Fortschritt zu einem Aufstieg der Informations- und Kommunikationstechnologien in zahlreichen Bereichen der Wirtschaft. Die so mögliche »Rationalisierung der Produktions- und Verwaltungsapparate, die Globalisierung der Wertschöpfungsketten und Konsummärkte sowie die Suche nach neuen Finanzprodukten« hätten einen »digitalen Kapitalismus« ermöglicht, »dessen Gravitationszentren heute Leitunternehmen der Digitalisierung wie Google, Amazon, Apple, Microsoft, Facebook und andere bilden«.

Doch so sehr auch geklickt, gesucht und programmiert wird: Das Wirtschaftswachstum und die Produktivität ziehen deshalb nicht an. Staab sieht den »Kern der Digitalisierungsprozesse der jüngeren Vergangenheit« in einer umfassenden Optimierung und »Restrukturierung der Konsumtions- und Distributionsapparate«. Hat es was gebracht?

Es sei zwar »an einer entscheidenden Nahtstelle« angesetzt worden, so Staab. Doch es sei nicht abzusehen, »dass die Rationalisierung der Nachfrage jene Wachstumsimpulse im Bereich des privaten Konsums auslösen wird, die für eine Entschärfung des Konsumtionsproblems notwendig wären«. Das Gegenteil ist wohl sogar wahrscheinlicher.

Die Folgen dessen, was als Digitalisierung der kapitalistischen Ökonomie bisweilen angepriesen wird, könnten - Stichworte sind hier nicht zuletzt Automatisierung, Entwicklungen der Robotik und Künstlichen Intelligenz - auch zur »umfangreichen Abwertung von Arbeit in zahlreichen Bereichen« führen, die sich unter den gegebenen Verteilungsverhältnissen »in systematischen Kaufkraftverlusten niederschlagen« würde, so Staab.

Bei Karl Georg Zinn heißt es, der westliche Industriekapitalismus mache schon seit Längerem »den Eindruck eines entkräfteten Kolosses«. Fällt er, der »alte Schlawiner« (Peter Licht)? Und wenn? Zu Schadenvorfreude besteht kein Anlass, solange man sich über die realistischen Optionen eines anderen Danach keineswegs sicher sein kann. Es muss ja nicht unbedingt besser werden.

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