Kennenlernen baut Konkurrenzdenken ab
Teil 2 unserer Serie: Die Gewerkschaftsbewegung ist teils kritisch pro-europäisch, teils pro Brexit
Nahezu der gesamte Flugverkehr in Berlin kam Mitte März für zwei Tage zum Erliegen, die Auswirkungen waren in ganz Europa zu spüren. Das Bodenpersonal war in einen Streik für höhere Löhne getreten. Dass diese niedrig sind, ist auch eine Folge Brüsseler Politik, denn eine EU-Richtlinie zwingt Flughäfen seit Jahren zum Wettbewerb bei den Bodenverkehrsdiensten, die Löhne sind infolgedessen um 30 Prozent gesunken.
Für Gotthard Krupp, Mitglied des Bezirksvorstandes Berlin der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, ist das ein typisches Beispiel dafür, wie sich die EU-Politik vor Ort auswirkt. Krupp ist im »Arbeitskreis Europa« von ver.di aktiv, der 2008 auf Initiative von Ehrenamtlichen gegründet wurde. Anlass war damals das »Rüffert«-Urteil des Europäischen Gerichtshofes, mit dem das niedersächsische Vergabegesetz für europarechtswidrig erklärt wurde, weil es zu hohe Standards für Arbeitnehmer festlege.
Bei vielen Gewerkschaftern klingelten die Alarmglocken. So auch bei Krupp und seinen Kollegen. Trotz des Namens ist der Ansatz des »Arbeitskreises Europa« ein sehr lokaler: »Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sich die europäische Politik vor Ort konkretisiert. Es geht uns daher nicht um die große Europapolitik, sondern darum, wie sich diese hier äußert«, sagt Krupp.
Doch haben die Gewerkschaften auch zur »großen Europapolitik« etwas zu sagen? Die Vision, den Nationalstaat zu überwinden und ein sozial gerechtes Europa zu schaffen, ist der Arbeiterbewegung in die Wiege gelegt worden, auch wenn die Gewerkschaften nicht immun sind gegen Nationalismus, wie schon ein Blick zurück auf die Zeit des Ersten Weltkrieges zeigt.
Mit der Politik der EU aber hadern Gewerkschaften allerorts. Deutlich wurde dies, als im April 2014 in Brüssel 50 000 Menschen gegen die Sparpolitik in der Union demonstrierten. Aufgerufen hatte der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB). Der Dachverband vereint 45 Millionen Mitglieder aus 89 Organisationen und 39 Ländern, also nicht nur aus den EU-Staaten, sondern aus allen europäischen Ländern inklusive der Türkei.
Auf die Frage, ob es so etwas wie eine »europäische Gewerkschaftsbewegung« gebe, antwortet Peter Scherrer, stellvertretender Generalsekretär des EGB: »Ja, definitiv.« Er verweist unter anderem auf die im Februar vom Gewerkschaftsbund gestartete Kampagne »Pay Rise« für höhere Löhne in Europa. Schon seit einigen Jahren fordert der EGB zudem ein »soziales Fortschrittsprotokoll«. Ein Zusatz zum Lissabon-Vertrag soll - so die Idee - sicherstellen, dass soziale Rechte Vorrang gegenüber wirtschaftlichen Freiheiten erhalten.
Doch die Möglichkeiten des EGB sind begrenzt. Viele gewerkschaftliche Anliegen wie Löhne, Arbeitszeiten oder Renten werden in den Ländern und Branchen ausgehandelt. Die Rahmenbedingungen für Gewerkschaftsarbeit, die gesetzlichen Regelungen für Streiks und die betriebliche Mitbestimmung sind von Land zu Land verschieden. Auch der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist unterschiedlich hoch. In Skandinavien liegt er bei 70, in Frankreich nur bei acht Prozent.
Die größte Einzelgewerkschaft der Welt und damit auch Europas ist die deutsche IG Metall. Mit 2,3 Millionen Mitgliedern organisiert sie mehr Menschen als alle deutschen Parteien zusammen. Und sie möchte nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in Europa mitreden. Die IG Metall hat die Verbesserung der Arbeitsbedingungen entlang der industriellen Wertschöpfungsketten im Blick. Beispiel Ungarn: Hier hat die Gewerkschaft im vergangenen Jahr gemeinsam mit der ungarischen Metallgewerkschaft VASAS ein Büro eröffnet, um sich für höhere Löhne und gute Arbeitsbedingungen in den ungarischen Standorten deutscher Firmen einzusetzen.
Es geht aber um noch mehr: »Wir bringen Betriebsräte und Gewerkschafter aus beiden Ländern zusammen. Das hilft auch, gegenseitiges Verständnis zu entwickeln. Wenn man sich kennt, baut sich Konkurrenzdenken ab«, sagt Wolfgang Lemb, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall.
Die Gewerkschaft mischt auch an anderer Stelle mit. Als einzige deutsche Einzelgewerkschaft hat sie seit 2014 eine eigene Dependance in Brüssel. »Wir wollten die Themen, die für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unseren Branchen wichtig sind, mit einer eigenen Strategie nach Brüssel bringen«, erläutert Lemb die Hintergründe. »Kritisch pro-europäisch«, nennt er die Haltung der IG Metall zur EU. Nötig sei eine Abkehr von der Austeritätspolitik. Im Süden, so Lemb, habe diese Politik ganze Tarifsysteme zerstört. Eine entscheidende Frage sei daher, wie die Tarifstrukturen in Staaten wie Spanien, Portugal oder Griechenland wiederhergestellt werden können.
Doch längst nicht alle Gewerkschaften wollen die EU reformieren. Das zeigt zum Beispiel die britische Transportarbeitergewerkschaft RMT, die zuletzt mit spektakulären Eisenbahnstreiks auf sich aufmerksam gemacht hat. Ganz anders als die IG Metall findet sie an der EU grundsätzlich nichts Gutes und rief im letzten Jahr ihre 80 000 Mitglieder dazu auf, für den Brexit zu stimmen. Die RMT ist Teil des britischen Dachverbandes TUC und gehört damit auch zum EGB.
Eine europaweite, geeinte Gewerkschaftsbewegung scheint unter diesen Umständen kaum möglich. Zu vielfältig sind die Rahmenbedingungen, zu verschieden die Haltungen zur real existierenden EU. Dennoch: Es existiert auch eine Verbundenheit, den Uneinigkeiten zum Trotz. Dies zeigte sich zum Beispiel, als der DGB Mitte März eine gemeinsame Erklärung mit dem radikal linken türkischen Dachverband DISK zur Lage der Beschäftigten in der Türkei veröffentlichte. Wer die Klassenkampfrhetorik von DISK und die sozialpartnerschaftliche Ausrichtung des DGB kennt, weiß: Das ist eine starke Geste grenzübergreifender Solidarität.
Bisher in unserer Serie erschienen: Interview mit Ökonom Klaus Busch (25.3.)
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