Letzte Ausfahrt für die türkische Demokratie?

Die Opposition mobilisiert gegen das Präsidialsystem, das beim Referendum am 16. April zur Abstimmung steht. Von Ismail Küpeli

  • Ismail Küpeli
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit seinem Amtsantritt als Staatspräsident im Jahr 2014 treibt Erdogan sein Projekt eines autoritären Präsidialsystems voran. Innerhalb seiner Regierungspartei AKP konnte er die politischen GegnerInnen ausschalten und die Stimmen marginalisieren, die sich für den Erhalt des parlamentarischen Systems ausgesprochen haben. Allerdings waren die Oppositionsparteien geschlossen gegen den Staatsumbau - ungeachtet ob sie politisch eher links oder rechts orientiert sind. Auch innerhalb der türkischen Bevölkerung erhielt die Forderung von Erdogan keine Mehrheit. Die Ablehnung im Parlament und auf der Straße blieb stabil, trotz der Kampagnen der Regierungspartei.

Es kam sogar schlimmer - zumindest aus der Perspektive von Erdogan. Die Ergebnisse der Parlamentswahl im Juni 2015 verschlechterten die Aussichten auf eine baldige Einführung des Präsidialsystems. Unter dem Slogan »Wir werden dich nicht zum Präsidenten machen« gelang der linken und prokurdischen »Demokratischen Partei der Völker« (HDP) mit 13 Prozent der Stimmen der Einzug ins Parlament, wodurch die AKP zum ersten Mal die Regierungsmehrheit verlor. Damit war absehbar, dass der parlamentarische Weg zur Einführung der »Ein-Mann-Herrschaft« vorerst verschlossen bleiben würde - es sei denn, die allgemeine politische Lage würde sich radikal ändern.

Diese radikale Änderung war der Krieg gegen die PKK, der im Juli 2015 erneut begann. Die AKP nutzte diesen Krieg, um zum einen die HDP als die zivile Stimme der kurdischen Bevölkerung zu marginalisieren, um dann bei den Neuwahlen im November 2015 wieder die Regierungsmehrheit im Parlament zu erlangen. Zum anderen führte der Krieg zu einer Annäherung zwischen der AKP und der rechten Oppositionspartei MHP, die zuvor die Regierung wegen des Friedensprozesses mit der kurdischen Seite kritisiert und eine militärische Lösung der sogenannten »Kurdenfrage« gefordert hatte. Die Annäherung zwischen AKP und MHP führte dazu, dass die MHP sich bereit erklärte, im Parlament die Einführung des Präsidialsystems zu unterstützen.

Trotz der hinzugewonnenen Stimmen der MHP brachte die AKP die für eine Verfassungsänderung benötigte Zweidrittelmehrheit nicht zusammen. Für die Einberufung eines Referendums über eine Verfassungsreform waren die 330 Stimmen im Parlament jedoch ausreichend, sodass ebendiese formaldemokratisch im Parlament beschlossen werden konnte. Allerdings befürworten nicht alle Kräfte innerhalb der MHP das Vorgehen der eigenen Parteiführung. Eine nennenswerte Minderheit innerhalb der MHP mobilisiert für ein Nein bei dem Referendum am 16. April. Die Gründe dafür reichen von ideologischen Differenzen zu der islamisch-konservativen AKP bis hin zu der Einschätzung, dass mit der Einführung des Präsidialsystems die Existenzgrundlage für Oppositionsparteien generell wegfällt und dies auch die MHP in Gefahr bringt.

Die größte Oppositionspartei des Landes, die kemalistische CHP, mobilisiert recht geschlossen gegen die Verfassungsänderung. Während in anderen Konflikten die Haltung der CHP als unklar und schwach scheint, ist dies beim aktuellen Wahlkampf nicht zu beobachten. In den Monaten nach dem Putschversuch im Juli 2016 hatte die Parteiführung lange gezögert, die AKP-Regierung offen anzugreifen, nicht zuletzt, um nicht in die Nähe der Putschisten gestellt zu werden. Jetzt kritisiert die CHP offen die Einführung des Präsidialsystems als das Ende der parlamentarischen Demokratie und die Etablierung einer autoritären Herrschaft. Wahrscheinlich hat die CHP wie auch schon die MHP-Minderheit verstanden, dass in der »neuen Türkei« nach dem 16. April für sie kein Platz mehr ist.

Die HDP hat wiederum für ihre offene Feindschaft zum Präsidialsystem einen hohen Preis bezahlt. Die beiden Parteivorsitzenden, elf weitere Parlamentsabgeordnete, Dutzende BürgermeisterInnen und Tausende Parteimitglieder sind inhaftiert und sollen wegen »Terrorismus« angeklagt werden. Der Wahlslogan der HDP bei den Parlamentswahlen von Juni 2015 scheint sich auf eine zynische Weise zu bestätigen. Erst mit der Ausschaltung der HDP scheint der Staatsumbau möglich zu werden. Trotz der Repressionen mobilisiert die HDP zum Referendum und setzt darauf, dass die kurdische Bevölkerung die Folgen des Krieges der Regierung anlastet und deswegen mit Nein abstimmt.

Wenig überraschend ist es, dass auch die linken sozialen Bewegungen für ein »Hayir« (deutsch: Nein) mobilisieren. Neben der mächtigen Frauenbewegung, die seit Jahren die sichtbarsten und größten Proteste auf der Straße organisiert, beteiligen sich diesmal auch die Gewerkschaften an den Kampagnen gegen die Regierung. Dies war nicht immer so. Insbesondere die großen Gewerkschaftsverbände haben etwa zu wenig und zu uneindeutig gegen den Krieg in den kurdischen Gebieten Stellung bezogen.

Die sozialen Bewegungen erleben seit der Niederschlagung der Gezi-Proteste im Herbst 2013 eine Welle staatlicher Repressionen und eine immer stärkere Einengung der Räume für die zivile und friedliche Opposition. Die Einführung des Präsidialsystems wäre der Abschluss dieses autoritären Weges der AKP-Regierung und würde den sozialen Bewegungen die Luft zum Atmen nehmen.

Indes teilen nicht alle Oppositionelle die Hoffnung auf eine Verhinderung des antidemokratischen Systems. Im Wissen darüber, dass Erdogan und die AKP auch bei einer Niederlage am 16. April weiter den autokratischen Weg gehen werden, verlassen viele AktivistInnen, Oppositionelle und kritische JournalistInnen das Land. Einer der Orte, die sie ansteuern, ist Deutschland.

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