Festivals brauchen eine gute Mischung aus Tradition und Erneuerung. Traditionell ist für die Panorama-Sektion der Berlinale die besondere Aufgeschlossenheit für Filme mit schwul-lesbischem Hintergrund. Eine Aufgeschlossenheit, die allerdings nicht selten mit den Qualitätskriterien kollidiert, die man gemeinhin an die Programmauswahl internationaler Festivals anlegt. Sie hat offenbar auch diesmal manch künstlerisch Unbedarftes ins Programm gehievt wie etwa Eytan Fox »The Bubble«, »Férfiakt« des Ungarn Károly Esztergályos oder die brasilianische Familiensoap »A casa de Alice« von Chico Teixeira. Dass es auch anders geht, zeigt Marco Simon Puccionis Spielfilm »Riparo« (»Zuflucht«). Darin wird die Liebe zwischen der Fabrikantentochter Anna und der Arbeiterin Mara auf eine harte Probe gestellt, als die beiden nach der Rückkehr aus einem gemeinsamen Marokko-Urlaub zwischen ihrem Gepäck einen jungen Marokkaner als blinden Passagier entdecken. Die sich daraus entwickelnde Dreiecksgeschichte besticht durch exzellente Darstellerleistungen (Maria de Medeiros, Antonia Liskova) und weil Puccioni den sozialen Kontext seiner Figuren im Spannungsfeld von Globalisierung, wirtschaftlicher Macht und kultureller Gegensätze jederzeit transparent macht.
Wirklich spannendes Kino braucht solch stimmige Geschichten, solch lebensechte Figuren, nicht die auf Markttauglichkeit getrimmten Plastikfigürchen aus dem Mainstream. Man darf getrost einen Zusammenhang vermuten zwischen dem wachsenden Frust der Kinogänger über die immergleichen Action-Strickmuster und die allzu durchsichtigen »romantic comedies« aus der (Alb-)Traumfabrik Hollywood und dem seit Jahren steigenden Interesse des Publikums am Dokumentarfilm, der in einer großen Vielfalt von Formen und Themen sein Publikum sucht und über Ausnahmeerfolge à la Michael Moore längst hinaus ist.
So wundert es nicht, dass auch das Panorama sich dieser Entwicklung immer mehr öffnet und ein gutes Drittel seines Programms dem Dokumentarfilm widmet. Ein Beispiel für eine gelungene Reportage ist Lucy Walkers »Blindsight« über die Himalaya-Expedition einer Gruppe blinder Jugendlicher, 104 spannende Minuten ohne falsches Heldenpathos, aber mit tiefen Einsichten in die menschliche Psyche unter Stressbedingungen. Spannung verspricht auch Lynn Hersh-man Leesons »Strange Culture«, der sogar Mittel des Spielfilms nutzt zur Rekonstruktion eines Albtraums staatlicher Repression durch George Bushs Sicherheitsbehörden. Eher im Stil eines TV-Features gehalten ist Leopold Grüns »Der rote Elvis« über Leben und Tod des Sängers und Schauspielers Dean Reed.
Um Musik, aber eigentlich um weit mehr geht es in Peter Kahanes Dokumentarfilm »Tamara«, denn dessen Titelfigur ist niemand anders als Tamara Danz, die 1996 allzu früh, an Brustkrebs verstorbene Frontfrau der Rockgruppe Silly. Kahane nähert sich den vielen Facetten dieser Pop-Ikone der DDR mit ähnlich vielgestaltigen filmischen Mitteln. Ausschnitte aus ihren Konzerten, oft gefilmt mitten aus der heftig bewegten Zuhörerschaft, wechseln mit Bildern und Schmalfilm-Ausschnitten aus ihrer Kindheit oder Kurzinterviews aus ihrem Freundeskreis. Man erfährt von ihren behüteten ersten Jahren als Diplomatentochter, aber auch von den ersten Brüchen und Konflikten mit einer Gesellschaft, die die selbstbewusste Rockrebellin als miefig und verknöchert empfand. Am spannendsten aber sind die ausführlichen Gespräche, die Kahane mit den beiden Silly-Musikern Rüdiger Barton und Uwe Hassbecker führt, die nicht nur ihre Bühnenkollegen waren, sondern auch Rivalen um ihre Liebe. Peter Badels ausgezeichnete Bildgestaltung hält stets die nötige Distanz und ist doch nahe genug, uns die Intimität dieser Auskünfte ohne Peinlichkeit erleben zu lassen. Man muss kein Rockfan sein, um Kahanes filmische Liebeserklärung an seine Titelheldin zu genießen - für Silly-Fans ist sie ohnehin ein Muss.