»Aber das konnten Sie doch gar nicht wissen«
In heutigen Integrationsdebatten hilft ein Blick auf deren Geschichte - Klaus Bade liefert einen Abriss
Die sogenannte Flüchtlingskrise hat nicht nur vielen Menschen, sondern auch der Politik in Deutschland ein Problem offenbart, vor dem man zuvor mehrheitlich weitgehend die Augen verschlossen hatte. Dass nämlich auch mitten in Europa, eingebettet in einen Kordon aus vorgelagerten Ländern, dem Problem der Migration nicht zu entgehen ist. Wenn nun daraus die Erkenntnis erwachsen sollte, dass der Schutzgürtel noch nicht ausreichend stabil, die Hindernisse nicht ausreichend hoch waren, wäre dies ein Schluss, der das Problem langfristig nur verschärft. Für Klaus Bade, einen der prominentesten Vertreter der deutschen Migrationsforschung, ist es seit langem eine bittere Erfahrung, dass alle Warnungen ins Leere gehen, so lange sie nicht alarmistisch zur Verteidigung rufen, sondern sich auf Ursachenforschung in einem sozialen Sinne gründen.
»Vor einer solchen Krise und vor ihren auch für Europa selbst gefährlichen Folgen haben wir seit Jahrzehnten vergeblich gewarnt.« Dies ist Bades Resümee in einem Interview mit »Migazin«, Zeitschrift für Migration in Deutschland, dessen Anlass freilich ein erfreulicher ist. Bade hat einer schier endlosen Reihe wissenschaftlicher und politikkritisch beratender Literatur ein autobiografisches Werk hinzugefügt, das in diesem Monat der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Dieses zeigt, dass nicht fehlende Kenntnis die politischen Defizite der letzten Jahrzehnte in Sachen Migration, Flucht und Integration verursachte, sondern fehlender politischer Wille. Was freilich häufig mit Verweigerung gegenüber Erkenntnissen verbunden ist.
Aus dem Jahr 1997 schildert Bade folgende Begebenheit: Ein Beamter des Bundesinnenministeriums habe ihn auf einem Empfang an die Auseinandersetzungen erinnert, die Bade Jahre zuvor - letztlich erfolglos - mit dem Ministerium über Einwanderungsgesetzgebung und Integrationspolitik geführt hatte. Auf des Professors Frage, wer denn nun, rückblickend betrachtet, recht gehabt habe, »das BMI oder wir«, habe der Beamte entrüstet geantwortet: »Da hatten Sie wohl recht - aber das konnten Sie damals doch gar nicht wissen!«
Man konnte es wissen. Und Klaus Bade, der über viele Jahre vergeblich versuchte, Migration und Integration als Zentralbereiche der Gesellschaftspolitik zu etablieren, wechselte aus Frustration über diese Realitätsverweigerung immer wieder vom wissenschaftlich zurückhaltenden Beobachter zum Politikkritiker und widersprach in emotionalisierten Debatten dem obligaten Standpunkt, dass Sicherheitspolitik wichtiger sei als Integrationspolitik. »Grenzgänger« zwischen Wissenschaft und Politik nennt ihn in ihrem Vorwort deshalb Aydan Özoğuz, die Beauftragte der Bundesregierung für Integration.
Die Politik hege die trügerische Hoffnung, dass die Forschung »Lösungen« für die immer drängender werdenden Migrationsprobleme entwickeln möge, warnt Klaus Bade in besagtem Interview. Sie dünge vor dem aktuellen Krisenhintergrund die Forschungsfelder Migration und Integration mit Geld. Dabei sei Migration keine »Herausforderung«, die durch Migrationspolitik »gelöst« oder sogar »bewältigt« werden könne. Migrationspolitik kuriere meist nur an Symptomen, Begleitumständen und Folgeerscheinungen. »Es geht doch um die weltwirtschaftlichen und weltgesellschaftlichen Ursachen dieser globalen Bewegungen und damit im Kern nicht um Migrationspolitik, sondern um grundlegende, genauer gesagt grundstürzende Systemfragen.«
Sich diesen Fragen zu verweigern, darin entwickelten Politiker eine gewisse Kreativität. Klaus Bade erinnert an die Vorläufer der »Migrationspartnerschaften«, die die EU heute mit afrikanischen Ländern anstrebt. »Der Menschenhändler Gaddafi lässt grüßen. Er war auf furchtbare Weise seiner Zeit voraus.« Der libysche Diktator hatte in bilateraler Vereinbarung mit dem italienischen Regierungschef Silvio Berlusconi - dessen Anteil an dem Konstrukt sicher nicht kleiner war als Gaddafis und ganz im Interesse der schweigend zustimmenden Union - die Flüchtlinge auf libyschem Territorium festgesetzt, noch bevor sie den europäischen Kontinent erreichten.
Wer sich mit der gesellschaftlichen Debatte und der sie begleitenden Forschung in den letzten Jahrzehnten beschäftigen will, kommt um Bades Buch schwerlich herum. Im ersten Teil findet er darin einen Abriss der Debatten seit den 80er Jahren, jenem Jahrzehnt, das Bade das »verlorene« nennt, weil sich darin noch nicht einmal ein Konsens über die Charakterisierung Deutschlands als Einwanderungsland durchsetzen konnte. Immer ist Bade auch in seiner vorgelegten Erörterung selbst Teil der Diskussion, nicht selten war er Ziel auch von Angriffen seiner Kritiker, denen die Meinung zu geigen er die Gelegenheit auch hier nicht ungenutzt verstreichen lässt. Anschließend legt Bade im zweiten Teil des Buches eine Auswahl seiner publizistischen Beiträge zu Migration, Flucht, Asyl und Integration in den letzten Jahrzehnten vor. Der rot-grünen Bundesregierung bescheinigt er einen Kurswechsel hin zu einer aktiven Migrations- und Integrationspolitik in den Regierungsjahren von 1998 bis 2005, die von den Folgeregierungen unter Angela Merkel in ihren Grundzügen fortgesetzt worden sei. Zu den hierbei widerstreitenden Tendenzen findet man im Buch die Details aus Sicht des Autors.
Klaus Bade hat eine Orientierungshilfe in von vielen als orientierungslos empfundener Zeit vorgelegt. Er wird dabei seinem Ruf als Pionier der historischen Migrationsforschung gerecht und tut bei der Gelegenheit, was er immer tut - er legt sich mit seinen Widersachern an und hilft beim Durchdringen der Geschichte von Migration in Deutschland, die übrigens auch über mehrere lange Zeiten eine Auswanderungsgeschichte war. Bade bei der Gelegenheit: Die sogenannten Mehrheitsgesellschaften ohne Migrationshintergrund sind in Wahrheit Gesellschaften mit verlorener Erinnerung an die eigenen Migrationshintergründe.
Klaus Bade: »Migration - Flucht - Integration. Kritische Politikbegleitung von der ›Gastarbeiterfrage‹ bis zur ›Flüchtlingskrise‹. Erinnerungen und Beiträge«. Karlsruhe 2017, Loeper Literaturverlag, 650 S., 32 EUR.
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