Unfreiwillig verfrachtet

In Ost und West, an Schulen und in Firmen kämpfen Menschen gegen Massenabschiebungen

  • Tim Zülch
  • Lesedauer: 4 Min.

Ende März hat die vierte Sammelabschiebung nach Afghanistan stattgefunden. 15 Menschen waren in dem Flugzeug, das vom Münchner Flughafen Richtung Kabul abhob. Bundesweit gab es Proteste, doch die Zahl der Teilnehmenden war klein - kleiner als bei den Sammelabschiebungen zuvor. In Berlin standen knapp 50 Protestierer vor dem Bundesamt für Flüchtlinge und Migration, auf dem Münchner Flughafen waren es 250 und vor dem Abschiebegefängnis in Mühlheim 400 Menschen. In Leipzig nahmen bei einer Demonstration, die Geflüchtete selbst organisiert hatten, immerhin 500 Personen teil.

Täglich werden mittlerweile Dutzende Familien auseinandergerissen und Menschen ihrer Hoffnung beraubt, indem sie mit Gewalt in ein Flugzeug verfrachtet werden und an einem - ihnen bisweilen unbekannten - Ort wieder aussteigen müssen, der ihre Heimat sein soll. Rund 25 375 Personen wurden im vergangenen Jahr abgeschoben. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion hervor. Das sind 21 Prozent mehr als im Jahr zuvor. 2014 wurden nach dieser Statistik 10 844 Menschen abgeschoben.

Doch es werden nicht nur immer mehr Menschen abgeschoben. Der Eindruck, dass Abschiebehemmnisse bei Geflüchteten immer weniger zählen, verfestigt sich bei vielen Engagierten. Mit großer Härte würden Abschiebungen mittlerweile in Sachsen durchgezogen, berichtet Thomas Hoffmann, Mitarbeiter des sächsischen Flüchtlingsrats. »Die Einzelfälle, die wir dokumentieren konnten, spiegeln in ihrer Qualität eine Brutalität wider, die uns entsetzt zurücklässt«, sagt Hoffmann. Es scheint ihm gar, als wolle Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich sich mit Blick auf die AfD als »Klassenprimus« unter den Bundesländern profilieren.

Der sächsische Flüchtlingsrat hat mehrere Fälle dokumentiert, in denen Familien bei der Abschiebung getrennt oder Hochschwangere abgeschoben wurden. Ende Februar erst wurde ein Vater mit drei Kindern in den Kosovo deportiert, während die Mutter, die aufgrund einer Krankheit einen Abschiebeschutz hatte, von ihrer Familie getrennt wurde.

Trotz der schwierigen gesellschaftlichen und politischen Lage gab es in Sachsen im Dezember in Dresden und Ende März in Leipzig relativ große Mobilisierungen. Beide Demos wurden maßgeblich von der afghanischen Community mitorganisiert. Thomas Hoffmann hofft, dass sich vor allem durch die Abschiebungen in das Bürgerkriegsland Afghanistan noch mehr Menschen »aus dem Dornröschenschlaf reißen lassen«.

Dass viele Menschen empört sind über die momentane Abschiebepolitik, stellt Julia Gorlt fest. Sie koordiniert beim nordrhein-westfälischen Flüchtlingsrat eine neu gegründete Gruppe, die sich »Arbeitsgemeinschaft gegen Abschiebungen« nennt. Es gebe immer mehr Menschen, die anrufen und sich engagieren wollen, weil Bekannte abgeschoben werden, sagt sie. Zum Gründungstreffen der Arbeitsgemeinschaft Mitte Februar seien rund 50 Personen gekommen. Ihr Eindruck sei, dass Menschen, die bisher eher humanitär für Flüchtlinge tätig gewesen seien, sich zunehmend politisieren. »Es sind sehr viele, die nicht locker lassen«, sagt sie.

Eine riesige Resonanz erzielten Schüler aus Cottbus, die sich für drei von Abschiebung bedrohte Mitschüler einsetzten. Ihre Onlinepetition brachte es auf über 70 000 Unterstützer. Fernsehen, Radio und Zeitungen berichteten. Die Schüler schreiben in der Petition: »Wir sind Schüler/innen aus der Oberstufe der Freien Waldorfschule Cottbus und setzen uns GEMEINSAM für unsere Mitschüler ein, die ein großer Teil unserer Schulgemeinschaft geworden sind und die wir nicht einfach so wieder gehen lassen!«

Auch Unternehmen bekommen mittlerweile die Auswirkungen der Abschiebungen zu spüren. Seit Monaten setzt sich die mittelständische Firma Strasser Bau aus Oberbayern für ihren Mitarbeiter Tavus Qurban ein. Er arbeitet seit 2012 in dem Unternehmen, erhielt aber plötzlich keine Arbeitsgenehmigung mehr. Seine Abschiebung drohte. Die Firma legte einen Protesttag ein und startete eine Facebook-Kampagne. Firmenchef Stefan Birnbacher: »Momentan sind wir in großer Sorge. Wir hoffen auf die zumindest monatliche Verlängerung der Arbeitserlaubnis.«

Die Eichstätter Bauunternehmerin Beate Meier will nicht hinnehmen, dass ihr Mitarbeiter Badingdin Jaiteh aus Ghana abgeschoben wird - sein Asylantrag wurde abgelehnt. Sie organisierte Runde Tische, schrieb Briefe an Politiker und Medien. In den folgenden zwei Wochen meldeten sich rund 60 baden-württembergische Firmen mit ähnlichen Problemen bei ihr. Darunter das Nobelrestaurant Schwarzer Adler am Kaiserstuhl und der Sportartikelhersteller VauDe mit Sitz in Tettnang am Bodensee. Einem Artikel in der »Badischen Zeitung« zufolge nennt sie es »Irrsinn«, dass einer, der anpackt und sich einbringt, nicht hierbleiben dürfe, zumal wenn er Arbeit übernehme, für die sich jahrelang niemand beworben habe.

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