Staatsanwältin ohne staatlichen Schutz
Das Beispiel von María Nancy Ardila zeigt Schwächen in Kolumbiens für den Frieden so wichtigem Justizsystem auf
Ein- bis zweigeschossige Backsteinhäuser säumen die Straßen des weitläufigen Mittelklasseviertels. Das gelbe Taxi hält vor einem Einfamilienhaus und María Nancy Ardila Pedraza beobachtet, wie der Kunde bezahlt, zur Haustür kommt und klingelt. Erst als das Taxi langsam wieder anfährt, öffnet sie die Tür einen Spalt, mustert den Besucher, fragt nach dem Namen und gibt dann erst den Weg frei. »Wir müssen vorsichtig sein«, erklärt die mittelgroße, kräftige Frau im dunkelblauen Kostüm entschuldigend. María Nancy Ardila Pedraza ist Staatsanwältin, trägt ihr schwarzes Haar streng zurückgekämmt. Auf ihrer Nase sitzt eine ovale, unauffällige Brille. Abgekämpft wirkt die 47-Jährige, die seit dem Mai 2015 mit ihrer Familie auf der Flucht ist.
»Am 20. Januar 2015 wurde mein Bruder Elio Fabio Ardila Pedraza auf offener Straße in Caicedonia erschossen. Vier Monate später, am 13. Mai 2015, drang ein Killerkommando in mein Haus ein und erschoss meinen zweiten Bruder Jhon Jairo Ardila Pedraza im Beisein meiner Mutter«, erinnert sich María Nancy Ardila Pedraza mit gepresster Stimme. »Das war zu viel für mich.« Sie fühlt sich verantwortlich für diese Morde, obwohl sie erst 18 Stunden vor dem Mord an ihrem zweiten Bruder erfahren hatte, dass ihre gesamte Familie auf der Todesliste der paramilitärischen Bande von Alex Toro steht. Toro ist in der Region von Caicedonia, einer Verwaltungsstadt nahe Cali im Süden Kolumbiens, eine große Nummer und für zahlreiche Morde, Entführungen und den lokalen Drogenhandel verantwortlich. »Damals habe ich erst realisiert, wie gefährlich die Bande ist, die wir im Oktober 2014 ins Gefängnis gebracht hatten.« Zu spät, um ihre Brüder zu retten. Allerdings hat die Polizei die Familie auch im Stich gelassen, denn anders als richterlich angeordnet, wurde das Haus der Staatsanwältin eben nicht rund um die Uhr bewacht. »Warum, weiß ich bis heute nicht. Zudem gab es in der Staatsanwaltschaft ein Leck. Informationen gelangten direkt zu der Bande. Es ist eine Tatsache, dass Alex Toro aus dem Gefängnis heraus die Morde in Auftrag gab«, sagt die Staatsanwältin, deren Antrag auf Frühpensionierung läuft, mit leiser Stimme.
24 Jahre hat sie für die kolumbianische Justiz gearbeitet, sich nicht gescheut, Korruption in der eigenen Dienststelle anzuzeigen, konsequent die Menschenrechte verteidigt und sich auch nicht von Bombenanschlägen auf die Büros der Staatsanwaltschaft beeindrucken lassen. So wie es in Buenaventura der Fall war, Kolumbiens größtem Pazifikhafen, als sie dort drei Jahre im Einsatz war. Allerdings ohne ihre Familie, die aus Sicherheitsgründen in ihrer Heimatstadt Caicedonia blieb.
Dort fühlte sie sich sicher, bis sie im Oktober 2012 auf einige zu Unrecht archivierte Fälle in der Staatsanwaltschaft stieß. »Es waren rund 50 Akten, in denen es um Mord, Erpressung und Drogendelikte ging. Und es gab Zusammenhänge«, berichtet die Juristin, die die Akten mit zwei Ermittlungsbeamten auswertete. Sie fanden detaillierte Beschreibungen von Drogenrouten, Namen und konkrete Angaben zu den Mengen. Genug Details, um aktiv zu werden. Doch die Bande von Alex Toro kam ihr zuvor. »Sie hatten einen Tipp aus meiner Dienststelle bekommen und am nächsten Morgen lag das Beschwerdeschreiben eines Anwalts auf meinen Schreibtisch. Am gleichen Nachmittag gegen 17 Uhr erhielt ich dann per Telefon den Rat, die Finger von den Fällen zu lassen, wenn ich nicht sterben wolle«, erinnert sich die engagierte Staatsanwältin. Sie stammt aus einfachen Verhältnissen. Ihr Vater, der den Killern der Bande im September 2016 knapp entkam, arbeitet als Berater in der Landwirtschaft, ihre Mutter, die sich um den nun 16-jährigen Sohn kümmerte, wenn die Juristin unterwegs war, ist Hausfrau.
An Arbeit ist heute nicht mehr zu denken, denn die einst bestimmt auftretende Staatsanwältin ist ein Nervenbündel geworden. Sie ist in psychiatrischer Behandlung. »Ich kann mich kaum mehr konzentrieren, und wenn jemand die Stimme erhebt, zucke ich zusammen«, schildert sie die eigene Verfassung. »Das Problem mit der Justiz in Kolumbien ist, dass die, die nicht korrupt sind, in Angst leben müssen«, sagt sie mit bitterer Miene. Korruption sei weit verbreitet und Mitarbeiter, die auf der Lohnliste der organisierten Kriminalität oder der Paramilitärs stehen, gebe es nicht nur in der Provinz wie in Caicedonia, sondern auch in den großen Städten des Landes.
Das bestätigt auch Carlos A. Guevara, Koordinator der Menschenrechtsorganisation »Somos Defensores« (Wir sind Verteidiger). »Von den 800 Morddrohungen, die die Aguilas Negras (Schwarze Adler - eine paramilitärische Organisation) in den vergangenen fünf Jahren ausgesprochen haben, ist nicht eine einzige aufgeklärt worden. Angesichts dieser Fakten können wir schlicht nicht glauben, dass die Paramilitärs innerhalb der Ermittlungsstrukturen nicht gedeckt werden«, sagt Guevara. Ein elementares Problem der Justiz. Ein anderes ist, dass engagierte Ermittler wie Frau Ardila Pedraza nicht die Unterstützung erhalten, die sie benötigen.
»Erst ein Gerichtsurteil musste dafür sorgen, dass die Familie zwei Personenschützer zugewiesen bekam«, erklären Carlos Andrés Ojeda Sierra, FASOL-Direktor und Carlos A. Guevara von »Somos Defensores« unabhängig voneinander. Ojeda Sierra leitet den »Solidaritätsfonds für kolumbianische Richter«, der vor allem aus Deutschland finanziert wird und mehrfach Justizangehörige aus der Schusslinie geholt und im Ausland in Sicherheit gebracht hat. Das versuchen beide Organisationen auch für María Nancy Ardila Pedraza und ihre Familie zu leisten.
Die fühlt sich von ihrem Arbeitgeber »inhuman und unsensibel« behandelt, denn ihr wurde psychologische und psychiatrische Hilfe für sich und ihre Familie verweigert. »Regelrecht im Stich gelassen wurde ich und da bin ich sicherlich kein Einzelfall«, ärgert sich die ehemalige Staatsanwältin. Ihr Antrag auf Frühverrentung läuft und genau deshalb muss sie raus aus Kolumbien. »Wenn dem Antrag stattgegeben wird, verliert die Familie den Schutz durch die Bodyguards der Staatsanwaltschaft«, warnt FASOL-Direktor Ojeda Sierra. Er weiß, dass die Killer nach wie vor auf der Suche sind. Das ist auch Frau Ardila Pedraza bewusst.
Doch sie beharrt darauf, mit ihrer kompletten Familie das Land zu verlassen. »Ein weiteres Opfer, für dessen Tod ich verantwortlich bin, könnte ich nicht ertragen«, sagt sie und beißt die Zähne aufeinander. Das macht die Ausreise allerdings kompliziert und teuer, denn mindestens neun Personen zählen zum engsten Familienkreis. »Und es wäre keine Ausreise auf Zeit«, ergänzt Carlos A. Guevara mit ernster Miene. Er verhandelt genauso wie die FASOL-Kollegen mit Botschaften und Hilfsorganisationen, um die Ausreise der Familie in die Wege zu leiten. Ausreisen, um zu überleben, heißt die Devise der Familie.
Aber die Hoffnung, dass sich in Kolumbien doch noch etwas ändern könnte, hat María Nancy Ardila Pedraza noch nicht ganz aufgegeben. »Ich habe für das Friedensabkommen mit der FARC-Guerilla gestimmt, denn die Übergangsjustiz und die mit ihr verbundene Einführung neuer unabhängiger Gerichte und Ermittlungsorgane ist vielleicht unsere letzte Chance, aus dem Kreislauf von Gewalt und Korruption herauszukommen.« Das hofft die Juristin, für die der Eintritt in die Staatsanwaltschaft einst »das Größte« war. Da war sie Anfang 20. Nun muss sie ein von Korruption und Straflosigkeit geprägtes Land verlassen, das Staatsanwälte wie sie eigentlich dringend braucht.
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