Die Stimmen der Betroffenen hörbar machen

Die Ausstellung »Sequenzen - Erinnerung - Wechsel« im Bethanien untersucht den bundesdeutschen Rassismus als Ursache des NSU

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 3 Min.

Kassel, im Mai 2006. Ismail Yozgat steht auf der Bühne und wischt sich den Schweiß von der Stirn: »Wie viele Hinrichtungen müssen noch begangen werden, bis die Täter gefasst werden?«, ruft er den 4000 hauptsächlich migrantischen Demonstranten auf dem Schweigemarsch entgegen. Ismails 21-jähriger Sohn Halit wurde erst kürzlich an seinem Arbeitsplatz in einem Internetcafé mit zwei gezielten Kopfschüssen ermordet. Der Verfassungsschützer Andreas Temme war dabei anwesend.

In dem Video der Gruppe »was nun?!«, Teil der der Ausstellung »Sequenzen - Erinnerung - Wechsel« im Projektraum des Bethanien, sieht man weinende Frauen, die Blumen an dem Tatort niederlegen. Wütende, besorgte Demonstranten halten die Porträts weiterer ermordeter Migranten in den Händen. Ismail Yozgat erklärt gegenüber Polizisten, dass er ein ausländerfeindliches Tatmotiv vermutet. Die Behörden ermitteln aber auch im Falle seines Sohnes gegen einen »Mann südländischen Aussehens«.

Trotz der Forderungen der Demonstranten sollte es noch fünf Jahre dauern, bis durch die Selbstenttarnung des NSU der rassistische Hintergrund des Mordserie bekannt wurde. Die Polizei lebte offenbar in einer Parallelwelt, die 4000 Demonstranten wurden aber auch von Zivilgesellschaft und Medien nicht bemerkt. Die diskriminierende Erzählung der »Dönermorde« erschien plausibel.

»Unser Projekt will die Stimmen der Betroffenen hörbar machen«, sagt Rixxa Wendland, die neben Christian Obermüller für die Ausstellung im Bethanien die Verantwortung trägt. In mehreren Räumen setzen sich Kurzfilme, Interviews, Texttafeln, Plakate und Behördendokumente mit dem gesamtdeutschen Rassismus als Ursache der NSU-Morde auseinander. Die bis heute nicht restlos aufgeklärten Taten stellen die Kuratoren in einen historischen Kontext, der bis in die Nachkriegszeit zurückreicht.

Die Besucher erfahren so von migrantischen Kämpfen, die mittlerweile in Vergessenheit geraten sind. Der wilde Streik von Arbeiterinnen der Automobilzulieferfirma Pierburg in Neuss im Jahr 1973 zeigte beispielsweise die mehrfache Unterdrückung der Streikenden deutlich auf als arbeitende Frauen, Migrantinnen und Hausfrauen.

Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf dem staatlichen Umgang mit den Vertragsarbeitern in der DDR und den Arbeitsmigranten in der BRD. Beide deutsche Staaten hatten Gastarbeit als Instrument eingesetzt, um die Wirtschaft zu stärken, gleichzeitig aber auch, um Migration langfristig zu verhindern. Einwanderungsland wollte man nicht sein. Die Vertragsarbeiter wurden nach dieser Logik vom Rest der Gesellschaft rigoros getrennt und in Massenunterkünften kaserniert. Vietnamesische Vertragsarbeiterinnen in der DDR mussten etwa bei einer Schwangerschaft mit Ausweisung rechnen.

Weitere Videos berichten vom nationalistischen Taumel und den anschließenden Pogromen zu Beginn der 1990er Jahre. »Die Polizei stand an der Seite, während Nachbarn und Arbeitskollegen uns angegriffen haben«, berichtet der aus Mosambik stammende Manuell Nhacutou in einem Kurzfilm. Als der Mob seine Unterkunft belagerte, musste er aus Hoyerswerda fliehen. Zwölf ausführliche Interviews mit von Gewalt betroffenen Migranten und Aktivisten runden den Rundgang ab.

Die Ausstellung soll im Mai auch in Köln zum Tribunal »NSU-Komplex auflösen« gezeigt werden. Nach Wünschen der Kuratoren könnte die Sammlung in Form eines Archivs in Zukunft noch erweitert werden. »Das komplizierte Thema NSU überfordert mittlerweile viele Menschen«, sagt Christian Obermüller. »Kunst kann hier möglicherweise einen neuen Zugang schaffen.«

Ausstellung: Bis 18.04., Bethanien, Mariannenplatz 2, Kreuzberg.

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