Linkspartei und Grüne: »Schwarzer Tag« für die Türkei
Riexinger fordert nach Referendum: »Beitrittsgespräche beenden, Opposition unterstützen« / Gysi: NATO muss über Mitgliedschaft der Türkei nachdenken
Berlin. Nach dem erklärten Sieg des Erdogan-Lagers beim Referendum um die umstrittene Verfassungsänderung haben Politiker von Grünen und Linkspartei von einem »schwarzen Tag« für die Türkei gesprochen. Sie forderten einerseits nun erst recht Solidarität mit denen, die für Demokratie und gegen Diktatur gestimmt haben. »Wir stehen an ihrer Seite«, sagte Grünen-Chef Cem Özdemir und sprach auf Twitter von einem »schwarzen Tag« für die Türkei. Das Land sei tief gespalten. Özdemir forderte eine Neubewertung der deutsch-türkischen Beziehungen: »Ein «Weiter so» kann es jedenfalls nicht geben«.
Die LINKEN-Bundestagsabgeordete Sevim Dagdelen warf Erdogan vor, sich »durch organisierte Behinderung der Opposition eine Mehrheit für die Diktatur gesichert zu haben«. Von einer freien und fairen Abstimmung könne bei diesem Referendum keine Rede sein. »Dieses Referendum ist so frei wie die letzte Reichstagswahl am 5. März 1933 in Deutschland, als bereits alle kommunistischen Abgeordneten verhaftet waren und Kundgebungen der Arbeiterparteien polizeilich aufgelöst wurden, wie es im Moment beim Nein-Lager in der Türkei unter dem Ausnahmezustand auch oftmals der Fall ist«, sagte sie im NDR. Die Bundesregierung und die Europäische Union müssten ihren »Schmusekurs« zum türkischen Staatschef beenden, forderte Dagdelen.
Ähnlich äußerte sich der Vorsitzende der Linkspartei, Bernd Riexinger. Erdogan habe »mit jedem Mittel seine Präsidialdiktatur erzwungen«. Die europäische Antwort müsse nun lauten: »Beitrittsgespräche beenden, Opposition unterstützen«. Riexinger sagte mit Blick auf die NATO, diese werde »kaum plausibel machen können, wie die Erdokratie Teil des Bündnisses bleiben kann«.
Der frühere Linksfraktionschef Gregor Gysi hatte schon zuvor für den Fall eines möglichen Sieges des Ja-Lagers in der Türkei gefordert, die EU müsse dann »die Beitrittsverhandlungen aussetzen, die NATO über die Mitgliedschaft eines undemokratischen Landes nachdenken und alle Regierungen in Europa und insbesondere die Bundesregierung die Flüchtlingsfrage nicht länger über die Türkei regeln und sich damit täglich erpressbar machen«. Gysi forderte zudem, dass die Bundeswehr und deren Waffen »unverzüglich aus der Türkei abgezogen werden, schon weil es jeder Logik widerspricht, Daten über Syrien an die NATO und damit auch an die Türkei zu senden, die die Kurdinnen und Kurden in Syrien bekämpft, und andererseits die Kurdinnen und Kurden im Nordirak mit Ausbilder und Waffen für zu unterstützen«.
Die Linksfraktionschefin im Bundestag, Sahra Wagenknecht, sagte der Deutschen Presse-Agentur: »Der heutige Tag ist eine Zäsur für die Türkei.« Sie warf Erdogan vor, durch Manipulationen »eine Mehrheit für eine Diktatur zu erreichen«. Eine Politik des »Weiter so« von Kanzlerin Merkel und Außenminister Gabriel wäre »verheerend«, sagte sie. Statt eines »Merkel-Erdogan-Pakts« müsse es nun ein Bündnis der Bundesrepublik mit den Demokraten in der Türkei geben. »Die Bundesregierung ist gefordert klarzumachen, auf wessen Seite sie steht: Auf der Seite der Demokratie oder auf der Seite der Diktatur Erdogans.«
Die Bundesregierung hat zunächst zurückhaltend auf den Ausgang des Verfassungsreferendums in der Türkei reagiert. Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) mahnte angesichts des knappen Ergebnisses am Sonntagabend zur Besonnenheit. »Wie auch immer das Votum des türkischen Volkes am Ende ausfallen wird: Wir sind gut beraten, jetzt kühlen Kopf zu bewahren und besonnen vorzugehen«, erklärte der Außenminister. »Es ist gut, dass der so erbittert geführte Wahlkampf, auch bei uns in Deutschland, jetzt vorbei ist.«
Der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz rief nach der Volksabstimmung dazu auf, den Einsatz für Demokratie und Menschenrechte fortzusetzen. »Der knappe Ausgang des Referendums zeigt: Erdogan ist nicht Türkei«, schrieb Schulz auf dem Onlinedienst Twitter.
Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) sagte, es sei noch zu früh für Schlussfolgerungen. Er sagte in der ARD, die Bundesregierung werde das »in einer freien und demokratischen Wahl« zustande gekommene Ergebnis akzeptieren. Ob die Wahl fair verlaufen sei, würden unter anderem die Berichte der Wahlbeobachter der Organisation
Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan beansprucht den Sieg bei dem Volksentscheid über den Umbau des NATO-Landes von einer parlamentarischen Demokratie in ein autoritäres Präsidialsystem für sich. Nach Auszählung fast aller Stimmen holte das Ja-Lager laut Staatsmedien 51,3 Prozent. Die türkische Opposition zweifelt das Ergebnis an. Angesichts der geplanten Machtzuwächse für das Staatsoberhaupt befürchten Erdogans Gegner ein Abrutschen der Türkei in eine autokratische Herrschaft.
Wahlberechtigt bei dem Referendum waren auch knapp anderthalb Millionen in Deutschland lebende Türken. Nach Angaben der amtlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu stimmten rund 63 Prozent von ihnen mit Ja. Agenturen/nd
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.