Türkische Gemeinde: Protestwähler für Erdogan

Politiker und Migrantenvertreter wollen neue Debatte über Integration in Deutschland führen

  • Lesedauer: 3 Min.

Berlin. Deutschtürken haben aus Sicht des Bundesvorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu, auch aus Protest das diktatorische Präsidialsystem Recep Tayyip Erdogans mehrheitlich unterstützt. »Sie wollten dadurch Protest zum Ausdruck bringen gegen das, was sie seit Jahrzehnten aus ihrer Sicht hier empfinden«, sagte Sofuoglu, der Mitglied der SPD ist und sich für ein Nein beim Referendum in der Türkei eingesetzt hatte, am Dienstag dem Südwestrundfunk.

»Dass sie sich diskriminiert fühlen, dass sie sich ausgegrenzt fühlen, hat, denke ich, zu der ganzen Diskussion vor dem Referendum und den Spannungen zwischen Europa und der Türkei geführt.« Erdogan habe das sehr polemisch aufgegriffen und Europa und Deutschland als Feindbild genommen. Das sei bei den Leuten auch gut angekommen, ergänzte Sofuoglu. In Deutschland konnte Erdogan fast eine Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen bei einer geringen Wahlbeteiligung von 46 Prozent hinter sich vereinen.

Bei der Integration von Türken in Deutschland müsse »auf jeden Fall einiges nachgebessert werden«, sagte Sofuoglu. Die große Zustimmung für Erdogans Präsidialsystem habe aber auch andere Gründe. »Die AKP und Erdogan hat den Menschen in den letzten Jahren ein gewisses ›Wir‹- und Sicherheitsgefühl gegeben. Das hat natürlich dazu geführt, dass viele unreflektiert angefangen haben, Erdogan zu unterstützen.« Sie hätten sich wenig mit Inhalten auseinandergesetzt und blind »Ja« gesagt.

Die Grünen sehen in dem Ergebnis Versäumnisse in der Integrationspolitik der vergangenen Jahrzehnte. »In Deutschland brauchen wir jetzt eine Debatte darüber, warum ein Teil der Deutsch-Türken, die hier Demokratie und Rechtsstaatlichkeit genießen, diese in der Türkei abgewählt haben«, sagte der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir der »Rheinischen Post«. Nötig sei die »klare Ansage«, dass in Deutschland nur glücklich werde, wer mit beiden Füßen auf dem Boden des Grundgesetzes stehe und »nicht nur auf Zehenspitzen«.

Die CSU-Landesgruppenchefin im Bundestag, Gerda Hasselfeldt, sagte, sie hätte sich von den in Deutschland lebenden Türken »ein klares Bekenntnis zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gewünscht«. »Leider ist genau das Gegenteil passiert«, sagte Hasselfeldt gegenüber den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Eine große Mehrheit der abstimmenden Deutsch-Türken, die in Deutschland alle demokratischen Freiheiten in Anspruch nehme, habe »der Verfassungsänderung zugestimmt und damit die eigenen Landsleute dazu verurteilt, künftig in einem autoritären Staat zu leben«.

Zudem bekräftigte die Union ihre Forderung nach einer strengeren Regelung beim Doppelpass. Inzwischen sind einige Politiker der konservativen Schwesterparteien dazu übergegangen, offene Drohungen gegen in Deutschland lebende Menschen mit zwei Staatsbürgerschaften auszusprechen. »Ich halte es für wichtig, dass wir in der nächsten Legislaturperiode die Erleichterungen bei der doppelten Staatsbürgerschaft wieder rückgängig machen«, sagte der innenpolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Stephan Mayer (CSU), der »Welt«. Mayer forderte, dass zumindest den Kindern eines Doppelstaatlers die Staatsbürgerschaft auch wieder entzogen werden kann, »wenn diese nicht in Deutschland leben und offenkundig auch keinen Bezug mehr zu Deutschland haben«. Änderungen beim Staatsbürgerschaftsrecht sind in dieser Legislaturperiode allerdings praktisch ausgeschlossen. Denn diese entsprechen weder dem Koalitionsvertrag noch dem Willen der mitregierenden SPD.

Die LINKE-Politikerin Sevim Dagdelen bezeichnete die Integrationsdebatte als »Ablenkungsmanöver für die eigenen Fehler«. Die hohe Zustimmung für das Referendum sei die Folge dessen, dass man jahrelang das Netzwerk von Staatspräsident Erdogan in Deutschland habe gewähren lassen, sagte sie dem Sender n-tv.

Dagdelen kritisierte, dass häufig Erdogans Organisationen für die Integrationspolitik als Ansprechpartner genommen würden. Die reaktionäre Politik der islamistischen AKP über ihre Parteien beziehungsweise Lobbyorganisationen und den Moscheeverband DITIB in Deutschland müsse gestoppt werden, forderte die Bundestagsabgeordnete in einer Mitteilung. Agenturen/nd

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