Zeit frisst Moral

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Einer der am weitesten verbreiteten Irrtümer unserer Zeit besteht darin, Moral für eine Eigenschaft des Menschen zu halten, die lediglich an materielle Voraussetzungen geknüpft ist. Der Satz von Bertolt Brecht, erst komme das Fressen, dann die Moral, wird demzufolge so missverstanden, dass Fressen und Moral ureigenste Zuschreibungen der Gattung Mensch seien, nur dass eben das eine (die Moral) erst dann zur vollen Entfaltung kommen könne, wenn die andere (ein Mindestmaß an materieller Sicherheit) erfüllt sei. Daraus wird wiederum der Schluss gezogen, nur Menschen, denen es ökonomisch gut gehe, könnten sich Moral leisten; die anderen (die Armen, Abgehängten, Prekären) müssten leider auf diesen Luxus verzichten. Ist es da nicht naheliegend, so den Hass (zum Beispiel auf Flüchtlinge) zu erklären?

Was den meisten aber fehlt, ist nicht genügend Nahrung, sondern die Zeit. Das jedenfalls legen diverse Studien nahe. So wollen Hirnforscher der Universität von Südkalifornien schon vor einigen Jahren herausgefunden haben, dass das menschliche Gehirn auf Anzeichen von Angst und Schmerz in Sekundenbruchteilen reagiert, während Mitgefühl oder Bewunderung erst nach etlichen Sekunden entstehen. Moralische Entscheidungen, so die Schlussfolgerungen der Forscher, benötigten daher eine angemessene Zeit zum Reifen. Diese sei zwar bei den zwischenmenschlichen Kontakten gegeben, die die Wissenschaftler in ihrer Veröffentlichung mit »normal« bezeichnen (also in denen der außerdigitalen Welt), nicht aber bei der Kommunikation in den neuen Medienwelten des Internets. Durch die Hektik, mit der im Internet die Bilder wechseln und Informationen verbreitet werden, könne man die Gefühle über den Seelenzustand anderer Menschen nicht mehr »voll erleben« und das habe Folgen für die Moral. Nicht die Unmoral ist also das Problem, sondern die durch Infotainment erzeugte Gleichgültigkeit.

Anders formuliert: Die Zeit frisst die Moral. jam Illustration: iStock/cosmin 4000

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