Spreequellen und die Welt
Letzte Gespräche mit Markus Wolf - Vorabdruck aus einem ND-Buch
Markus Wolf, langjähriger Chef des DDR-Nachrichtendienstes, starb im November 2006. Bis kurz vor seinem Tode traf er sich mit dem Journalisten Hans-Dieter Schütt, der ihn interviewte - ein Buchprojekt mit offenem Ausgang. Über Nacht sind diese Gespräche, zwischen Juli und Oktober vergangenen Jahres, zur Hinterlassenschaft geworden. Geplant waren die Interviews für eine ND-Buchreihe - »AutorenLeben«: biografische Nachfragen zum 20. Jahrhundert, zu dessen Aufbrüchen und Katastrophen. Markus Wolf, 1923 als Sohn des Schriftstellers Friedrich Wolf geboren, erzählt von dem, was eine Existenz trägt, wenn »sich die Nebel lichten über der Unruhe, die einen durch die Zeiten trieb« (Alexander Puschkin).
ND: Herr Wolf, Ihr Buch »In eigenem Auftrag«, Bekenntnisse und Einsichten, 1991 erschienen, besteht aus Tagebüchern des Jahres 1989. Es beginnt mit der Frage: »Haben wir umsonst gelebt?« Ihre Antwort darauf bildet den letzten Satz des Buches: »Hirn und Herz wollen das nicht glauben.« Wie antworten Sie heute auf diese Frage?Wolf: Unmittelbar nach diesen gewaltigen Umwälzungen der Jahre 1989 und 1990 hatte sich die Frage sehr absolut gestellt, für viele Menschen und eben auch für mich. Es war eine Frage, die zunächst von außen herandrängte, wie eine Welle, an eine Burganlage schwappend, die doch bislang als gut, ja als felsenstark und wasserdicht befestigt galt. Der Welle schenkte man also anfangs nur mittelmäßige Beachtung - eben weil man nicht an fundamentale Einbrüche denken wollte. Weil man noch immer meinte, fest in sich zu ruhen, befeuert durch die Richtigkeit der Idee, die man bislang gelebt hatte.
Die man für sein Leben gehalten hatte?
Nein, ich kann sagen, für die ich wirklich gelebt hatte. Dann aber hat diese Welle Grundfeste unterspült, und wenn ich im Bilde bleiben soll: Zunächst, ein wenig erstaunt, registrierte man nur nasse Füße auf vermeintlich unantastbarem Boden, plötzlich aber stand das Wasser bis zu den Hälsen. Sicherheiten und Selbstsicherheiten stürzten ein wie Sandburgen an einem Strand. Mehr und mehr wurde diese Frage nach einem möglicherweise vergeblichen Streben und Leben zum Problem auch des inneren Empfindens. Die Frage wechselte gleichsam den Standort: Sie kam nicht mehr nur von außen, sie kam aus tiefstem eigenem Herzen. Ich bin diese Frage dann lange nicht mehr los geworden.
Diese Frage kann zermürben.
Zermürbt hat sie mich nicht. Aber je ernster man eine solche Frage nimmt, desto verzwickter fallen die Antworten aus, ich habe das in meinen Büchern auszudrücken versucht. Doch trotz dieser Wahrheit, dass einen die Antworten auf bestimmte Fragen leider keinesfalls souveräner machen, sondern eher unsicher, kann ich heute eindeutig sagen: Ich habe nicht umsonst gelebt. Es wäre absurd, solcher Vergeblichkeit das Wort zu reden. Mein Leben war ein lohnendes Leben - lohnend im Glück, in dem also, was gelang, aber auch in der schmerzvollen Erfahrung und im Scheitern.
Sinngebung just auch im Blick auf Ihr berufliches Leben, das am Ende so sehr und ausdauernd angefeindet wurde?
Ja, ganz klar. Aber diese Gewissheit ist nicht Ausdruck von selbst verordneter Blindheit. Am Ende des Sozialismus - das ich für ein vorläufiges Ende halte - muss man eindeutig und ohne Beschönigung, und auch ohne Trost, von einer herben, folgenreichen Niederlage sprechen, und ich leugne keineswegs meinen Anteil an dieser Arbeit. Aber trotzdem danke ich dem Schicksal oder wem auch immer, dass ich auf dieser sozialistischen Seite der gesellschaftlichen Kämpfe im 20. Jahrhundert stand.
Stephan Hermlin sagte: »Die sich herausgehalten haben, die edlen Geister, die kein Wort nach der einen oder anderen Richtung gebraucht haben, die diese Kämpfe abgelehnt haben, die nicht daran teilgenommen haben, die kommen als Unbeschädigte davon. Ich möchte nicht auf diese Weise unbeschädigt davonkommen.«
Dem stimme ich zu. Sehr gern und aus ganzem Herzen stimme ich dem zu.
Wie würden Sie Ihr Lebensgefühl beschreiben? Sie sind schließlich ein freier Mensch geworden, Sie schreiben, und Sie verfügen über ein interessantes Leben nach den Dienstjahren.
Dieses Lebensgefühl ist im Kern kein anderes, als ich es immer hatte: Ich reagierte stets relativ kurzentschlossen auf neue Situationen, ich nahm das zu Lösende ohne übertriebenes Zögern in Angriff. Salopp gesagt: Ich nahm das Leben, wie es kam. Ich hatte wohl immer auch einen Nerv für das Naheliegende, das zu akzeptieren war. Insofern konnten mir äußere Vorkommnisse, genau betrachtet, nur wenig anhaben. Das ist sicher ein mentaler Unterschied zu meinem Bruder Konrad. In mein Leben ist eine gewisse Ruhe eingekehrt. Ich weiß, dass mir nicht mehr sehr viel Zeit beschieden ist; ich bin gerade dabei, zu überlegen, was unter diesem Blickwinkel noch Sinn hätte, von mir begonnen zu werden, Buchprojekte etwa. So eine Art gespannter Entspanntheit, wenn es das denn gibt, würde ich mir gegenwärtig bescheinigen. Ausschau ohne Nervosität. Neugier ohne überzogene Erwartung, aber eben noch: Neugier. Manchmal lächle ich über die Welt, wie hektisch sie ist, wie gewichtig sie tut; und ich lächle auch über jene, die immer noch meinen, sie könnten mir am Zeug flicken. Mit zunehmendem Alter wird man ruhiger. Nicht selten kommt mir die Welt vor wie die Spree, die unter meiner Wohnung in Berlin entlangfließt: Der Blick aus dem eigenen Fenster wird zur bewussteren Wahrnehmung von lauter Oberflächen, die sich kräuseln. Ich habe diese schöne Möglichkeit, hier in unserem Haus im brandenburgischen Wald die Natur zu genießen. Dieses Leben mit der Natur gehörte schon von Kindheit an zu meinen Grunderlebnissen, das hat uns der Vater, als Arzt, in Fleisch und Blut übergehen lassen.
Auch die Niederlage 1989/90 hat Sie nicht in Distanz zur Idee gebracht?
Es liegt in der Natur der Hoffnungen, dass sie enttäuscht werden. Und doch bleiben sie das Beste, Stärkste, was wir haben.
Hoffnungen bringen uns auf einen Weg, den wir sonst vielleicht nicht gehen würden?
Hoffnungen sind die Kraft, die uns übersteigt, ohne dass wir es immer merken. Der wir uns anvertrauen, vielleicht sogar blindlings. Ich denke an meinen Vater, der in seinen Dramen, ob nun im »Armen Konrad« oder vor allem in den »Matrosen von Cattaro«, sehr inständig das Scheitern, die Niederlage zum Thema erhob, dabei doch aber nie in Abrede stellte, dass weiterzukämpfen sei. Die Idee des Sozialismus ist durch Praxis erheblich denunziert worden, aber diese furchtbare Praxis war nicht das Gesetz, unter dem die Idee für alle Zeiten steht. Leider überwiegt bei Jüngeren wohl vielfach die Skepsis. Begeisterung in utopischer Hinsicht ist selten geworden.
Ihr Vater war nicht nur Arzt, er galt als Gesundheitsfanatiker, als Verfechter einer konsequenten Freiluft- und Freikörperkultur.
Er war sozusagen lange Zeit vor mir ein Aufklärer, eine seiner Broschüren hieß warnend: »Dein Magen - kein Vergnügungslokal«. Untertitel: » ... sondern ein Kraftzentrum«. Wenn die proletarischen Wandergruppen loszogen, hatten sie Fähnchen mit, darauf Losungen oder Symbole gegen den Alkoholismus, für vegetarische Ernährung.
Nervt das Kinder nicht, so eine strenge turnerische und gesundheitsbetonte Erziehung?
Das haben beide Elternteile klug und feinfühlig betrieben, so dass wir uns nie gezwungen, getrieben, pädagogisch vergewaltigt fühlten. Wir verhielten uns wie die Naturmenschen, oft sind wir, wenn es das Wetter zuließ, splitternackt rumgelaufen. Das Einzige, womit wir Schwierigkeiten hatten, war die vegetarische Lebensweise. Ich kann mich noch erinnern, dass mein Bruder Koni mal wutentbrannt geschrien hat: Wenn ich groß bin, fresse ich einen ganzen Ochsen! Das war wie ein verbaler Befreiungsschlag, da musste die Wut regelrecht rausgebrüllt werden. Unsere Mutter war zum Glück überhaupt nicht dogmatisch - wenn wir beispielsweise mit dem Zug an die Nordsee fuhren, in die Ferien, hat sie Schinkenbrötchen eingepackt. Schinkenbrötchen sind für mich, seit jener frühen Zeit, etwas ganz Besonderes geblieben. Sie sind der Bruch mit der Regel gewesen, das schöne schmackhafte Außergewöhnliche. In der Schule haben Koni und ich natürlich leidenschaftlich gern mit anderen Kindern die Stullen getauscht. Wir hatten Marmelade drauf, die anderen boten Leberwurst an. Ein reger Tauschhandel entwickelte sich.
Was hat Sie am meisten gekränkt seit dem Ende der DDR?
Dass man Kommunisten keine Geisteswandlung zugesteht, wenn sie gleichzeitig darauf bestehen, Kommunist oder Sozialist zu bleiben. So einfach ist das.
Vertrauen Sie der Demokratie?
Sie ist die einzige Möglichkeit, einen Gesellschaftsfrieden zu bewahren. Aber ob sie in gegenwärtiger Form taugt, die Gesellschaft wirklich zum Besseren, zum Menschlichen hin zu verändern ...
Schreiben Sie vielleicht doch noch die Geschichte der Roten Kapelle - der Stoff, der Sie so bewegt?
Ich habe mich schweren Herzens davon verabschiedet. Ich sagte doch: Mir bleibt zu wenig Lebenszeit. Obwohl ich viel Material gesammelt habe. Vielleicht ergibt sich die Gelegenheit zu einem größeren Essay. Natürlich schrecke ich auch vor dem großen Maßstab zurück: der »Ästhetik des Widerstandes« von Peter Weiss. Manchmal sage ich zu mir, ach, lass das alles sein, setz dich draußen auf die Treppe und schau durch die Bäume auf den See. Das ist doch wahnsinnig schön, dass man noch erleben kann. Deswegen liebe ich dieses Grundstück hier auch so sehr. Die Schönheit der Natur habe ich immer als sehr stark empfunden, aber eben noch nie derart stark wie jetzt in der Lebensdämmerung. Ich sehe mich da sitzen, denke an Freunde, mein Buch heißt zwar »Freunde sterben nicht«, aber natürlich sind viele gestorben, und ich frage mich, wieso ausgerechnet ich das Glück so vieler Jahre verdient habe
Fühlten Sie sich in Ihrem Leben eher dem Zufall ausgeliefert oder eher nicht?
Was ich spürte und was ich in seiner Unabänderlichkeit einsah, spätestens seit Kriegsbeginn: Mein Leben gehörte nicht mehr bloß mir selber. Die Zeit griff danach. Mir hat dieses Empfinden dafür, dass man nicht völlig frei existieren kann, immer geholfen. Es beruhigt. Es macht einen manchmal sogar größer: Du steht für etwas. Ich vermute, Menschen im Gefühl der absoluten individuellen Freiheit täuschen sich über ihre wahre Lage.
Buchpremiere: ND im Club, 14.2., 19 Uhr
Aus dem Vorwort: »Ich wusste, ich würde nichts herausbekommen. Aber vielleicht etwas bekommen. Ich kannte viele Interviews mit Wolf, spürte hinter zahlreichen dieser Texte oder TV-Sendungen den Widerspruch zwischen dem Recherchewillen der jeweils Forschenden und einer stets sehr freundlich bleibenden Unberührbarkeit des Interviewten. Mitunter schien es, die Wahrheit der Fragestellung und die Wahrheit der Antwort wollten nicht zusammenkommen. Schwer, mit der Nagelfeile an einer Festung zu kratzen. So der Eindruck.
Dieses Buch hat keinen Titel. Es sind: Letzte Gespräche. Leider nicht mehr, zum Glück nicht weniger. Fragmente, nur im Ansatz berührt von jener gestaltenden Ordnung, die jedem Interview innewohnt, das man aus gesagter in geschriebene Sprache überträgt. Ich weiß nicht, was daraus geworden wäre.
Wenn ein Mensch, mit dem man eben noch sprach, gestorben ist, dann erst traut man sich eine Frage, die eine wichtige Frage schon zu Lebzeiten ist, eine Frage an jeden Augenblick Existenz: Ist die Hauptsache der Mensch oder das, was über ihn hinausgeht?« hds
Hans-Dieter Schütt: Markus Wolf - Letzte Gespräche. Das Neue Berlin. 256 S., mit zahlr. Fotos, geb., 14,90 EUR.ND: Herr Wolf, Ihr Buch »In eigenem Auftrag«, Bekenntnisse und Einsichten, 1991 erschienen, besteht aus Tagebüchern des Jahres 1989. Es beginnt mit der Frage: »Haben wir umsonst gelebt?« Ihre Antwort darauf bildet den letzten Satz des Buches: »Hirn und Herz wollen das nicht glauben.« Wie antworten Sie heute auf diese Frage?
Wolf: Unmittelbar nach diesen gewaltigen Umwälzungen der Jahre 1989 und 1990 hatte sich die Frage sehr absolut gestellt, für viele Menschen und eben auch für mich. Es war eine Frage, die zunächst von außen herandrängte, wie eine Welle, an eine Burganlage schwappend, die doch bislang als gut, ja als felsenstark und wasserdicht befestigt galt. Der Welle schenkte man also anfangs nur mittelmäßige Beachtung - eben weil man nicht an fundamentale Einbrüche denken wollte. Weil man noch immer meinte, fest in sich zu ruhen, befeuert durch die Richtigkeit der Idee, die man bislang gelebt hatte.
Die man für sein Leben gehalten hatte?
Nein, ich kann sagen, für die ich wirklich gelebt hatte. Dann aber hat diese Welle Grundfeste unterspült, und wenn ich im Bilde bleiben soll: Zunächst, ein wenig erstaunt, registrierte man nur nasse Füße auf vermeintlich unantastbarem Boden, plötzlich aber stand das Wasser bis zu den Hälsen. Sicherheiten und Selbstsicherheiten stürzten ein wie Sandburgen an einem Strand. Mehr und mehr wurde diese Frage nach einem möglicherweise vergeblichen Streben und Leben zum Problem auch des inneren Empfindens. Die Frage wechselte gleichsam den Standort: Sie kam nicht mehr nur von außen, sie kam aus tiefstem eigenem Herzen. Ich bin diese Frage dann lange nicht mehr los geworden.
Diese Frage kann zermürben.
Zermürbt hat sie mich nicht. Aber je ernster man eine solche Frage nimmt, desto verzwickter fallen die Antworten aus, ich habe das in meinen Büchern auszudrücken versucht. Doch trotz dieser Wahrheit, dass einen die Antworten auf bestimmte Fragen leider keinesfalls souveräner machen, sondern eher unsicher, kann ich heute eindeutig sagen: Ich habe nicht umsonst gelebt. Es wäre absurd, solcher Vergeblichkeit das Wort zu reden. Mein Leben war ein lohnendes Leben - lohnend im Glück, in dem also, was gelang, aber auch in der schmerzvollen Erfahrung und im Scheitern.
Sinngebung just auch im Blick auf Ihr berufliches Leben, das am Ende so sehr und ausdauernd angefeindet wurde?
Ja, ganz klar. Aber diese Gewissheit ist nicht Ausdruck von selbst verordneter Blindheit. Am Ende des Sozialismus - das ich für ein vorläufiges Ende halte - muss man eindeutig und ohne Beschönigung, und auch ohne Trost, von einer herben, folgenreichen Niederlage sprechen, und ich leugne keineswegs meinen Anteil an dieser Arbeit. Aber trotzdem danke ich dem Schicksal oder wem auch immer, dass ich auf dieser sozialistischen Seite der gesellschaftlichen Kämpfe im 20. Jahrhundert stand.
Stephan Hermlin sagte: »Die sich herausgehalten haben, die edlen Geister, die kein Wort nach der einen oder anderen Richtung gebraucht haben, die diese Kämpfe abgelehnt haben, die nicht daran teilgenommen haben, die kommen als Unbeschädigte davon. Ich möchte nicht auf diese Weise unbeschädigt davonkommen.«
Dem stimme ich zu. Sehr gern und aus ganzem Herzen stimme ich dem zu.
Wie würden Sie Ihr Lebensgefühl beschreiben? Sie sind schließlich ein freier Mensch geworden, Sie schreiben, und Sie verfügen über ein interessantes Leben nach den Dienstjahren.
Dieses Lebensgefühl ist im Kern kein anderes, als ich es immer hatte: Ich reagierte stets relativ kurzentschlossen auf neue Situationen, ich nahm das zu Lösende ohne übertriebenes Zögern in Angriff. Salopp gesagt: Ich nahm das Leben, wie es kam. Ich hatte wohl immer auch einen Nerv für das Naheliegende, das zu akzeptieren war. Insofern konnten mir äußere Vorkommnisse, genau betrachtet, nur wenig anhaben. Das ist sicher ein mentaler Unterschied zu meinem Bruder Konrad. In mein Leben ist eine gewisse Ruhe eingekehrt. Ich weiß, dass mir nicht mehr sehr viel Zeit beschieden ist; ich bin gerade dabei, zu überlegen, was unter diesem Blickwinkel noch Sinn hätte, von mir begonnen zu werden, Buchprojekte etwa. So eine Art gespannter Entspanntheit, wenn es das denn gibt, würde ich mir gegenwärtig bescheinigen. Ausschau ohne Nervosität. Neugier ohne überzogene Erwartung, aber eben noch: Neugier. Manchmal lächle ich über die Welt, wie hektisch sie ist, wie gewichtig sie tut; und ich lächle auch über jene, die immer noch meinen, sie könnten mir am Zeug flicken. Mit zunehmendem Alter wird man ruhiger. Nicht selten kommt mir die Welt vor wie die Spree, die unter meiner Wohnung in Berlin entlangfließt: Der Blick aus dem eigenen Fenster wird zur bewussteren Wahrnehmung von lauter Oberflächen, die sich kräuseln. Ich habe diese schöne Möglichkeit, hier in unserem Haus im brandenburgischen Wald die Natur zu genießen. Dieses Leben mit der Natur gehörte schon von Kindheit an zu meinen Grunderlebnissen, das hat uns der Vater, als Arzt, in Fleisch und Blut übergehen lassen.
Auch die Niederlage 1989/90 hat Sie nicht in Distanz zur Idee gebracht?
Es liegt in der Natur der Hoffnungen, dass sie enttäuscht werden. Und doch bleiben sie das Beste, Stärkste, was wir haben.
Hoffnungen bringen uns auf einen Weg, den wir sonst vielleicht nicht gehen würden?
Hoffnungen sind die Kraft, die uns übersteigt, ohne dass wir es immer merken. Der wir uns anvertrauen, vielleicht sogar blindlings. Ich denke an meinen Vater, der in seinen Dramen, ob nun im »Armen Konrad« oder vor allem in den »Matrosen von Cattaro«, sehr inständig das Scheitern, die Niederlage zum Thema erhob, dabei doch aber nie in Abrede stellte, dass weiterzukämpfen sei. Die Idee des Sozialismus ist durch Praxis erheblich denunziert worden, aber diese furchtbare Praxis war nicht das Gesetz, unter dem die Idee für alle Zeiten steht. Leider überwiegt bei Jüngeren wohl vielfach die Skepsis. Begeisterung in utopischer Hinsicht ist selten geworden.
Ihr Vater war nicht nur Arzt, er galt als Gesundheitsfanatiker, als Verfechter einer konsequenten Freiluft- und Freikörperkultur.
Er war sozusagen lange Zeit vor mir ein Aufklärer, eine seiner Broschüren hieß warnend: »Dein Magen - kein Vergnügungslokal«. Untertitel: » ... sondern ein Kraftzentrum«. Wenn die proletarischen Wandergruppen loszogen, hatten sie Fähnchen mit, darauf Losungen oder Symbole gegen den Alkoholismus, für vegetarische Ernährung.
Nervt das Kinder nicht, so eine strenge turnerische und gesundheitsbetonte Erziehung?
Das haben beide Elternteile klug und feinfühlig betrieben, so dass wir uns nie gezwungen, getrieben, pädagogisch vergewaltigt fühlten. Wir verhielten uns wie die Naturmenschen, oft sind wir, wenn es das Wetter zuließ, splitternackt rumgelaufen. Das Einzige, womit wir Schwierigkeiten hatten, war die vegetarische Lebensweise. Ich kann mich noch erinnern, dass mein Bruder Koni mal wutentbrannt geschrien hat: Wenn ich groß bin, fresse ich einen ganzen Ochsen! Das war wie ein verbaler Befreiungsschlag, da musste die Wut regelrecht rausgebrüllt werden. Unsere Mutter war zum Glück überhaupt nicht dogmatisch - wenn wir beispielsweise mit dem Zug an die Nordsee fuhren, in die Ferien, hat sie Schinkenbrötchen eingepackt. Schinkenbrötchen sind für mich, seit jener frühen Zeit, etwas ganz Besonderes geblieben. Sie sind der Bruch mit der Regel gewesen, das schöne schmackhafte Außergewöhnliche. In der Schule haben Koni und ich natürlich leidenschaftlich gern mit anderen Kindern die Stullen getauscht. Wir hatten Marmelade drauf, die anderen boten Leberwurst an. Ein reger Tauschhandel entwickelte sich.
Was hat Sie am meisten gekränkt seit dem Ende der DDR?
Dass man Kommunisten keine Geisteswandlung zugesteht, wenn sie gleichzeitig darauf bestehen, Kommunist oder Sozialist zu bleiben. So einfach ist das.
Vertrauen Sie der Demokratie?
Sie ist die einzige Möglichkeit, einen Gesellschaftsfrieden zu bewahren. Aber ob sie in gegenwärtiger Form taugt, die Gesellschaft wirklich zum Besseren, zum Menschlichen hin zu verändern ...
Schreiben Sie vielleicht doch noch die Geschichte der Roten Kapelle - der Stoff, der Sie so bewegt?
Ich habe mich schweren Herzens davon verabschiedet. Ich sagte doch: Mir bleibt zu wenig Lebenszeit. Obwohl ich viel Material gesammelt habe. Vielleicht ergibt sich die Gelegenheit zu einem größeren Essay. Natürlich schrecke ich auch vor dem großen Maßstab zurück: der »Ästhetik des Widerstandes« von Peter Weiss. Manchmal sage ich zu mir, ach, lass das alles sein, setz dich draußen auf die Treppe und schau durch die Bäume auf den See. Das ist doch wahnsinnig schön, dass man noch erleben kann. Deswegen liebe ich dieses Grundstück hier auch so sehr. Die Schönheit der Natur habe ich immer als sehr stark empfunden, aber eben noch nie derart stark wie jetzt in der Lebensdämmerung. Ich sehe mich da sitzen, denke an Freunde, mein Buch heißt zwar »Freunde sterben nicht«, aber natürlich sind viele gestorben, und ich frage mich, wieso ausgerechnet ich das Glück so vieler Jahre verdient habe
Fühlten Sie sich in Ihrem Leben eher dem Zufall ausgeliefert oder eher nicht?
Was ich spürte und was ich in seiner Unabänderlichkeit einsah, spätestens seit Kriegsbeginn: Mein Leben gehörte nicht mehr bloß mir selber. Die Zeit griff danach. Mir hat dieses Empfinden dafür, dass man nicht völlig frei existieren kann, immer geholfen. Es beruhigt. Es macht einen manchmal sogar größer: Du steht für etwas. Ich vermute, Menschen im Gefühl der absoluten individuellen Freiheit täuschen sich über ihre wahre Lage.
Buchpremiere: ND im Club, 14.2., 19 Uhr
Aus dem Vorwort: »Ich wusste, ich würde nichts herausbekommen. Aber vielleicht etwas bekommen. Ich kannte viele Interviews mit Wolf, spürte hinter zahlreichen dieser Texte oder TV-Sendungen den Widerspruch zwischen dem Recherchewillen der jeweils Forschenden und einer stets sehr freundlich bleibenden Unberührbarkeit des Interviewten. Mitunter schien es, die Wahrheit der Fragestellung und die Wahrheit der Antwort wollten nicht zusammenkommen. Schwer, mit der Nagelfeile an einer Festung zu kratzen. So der Eindruck.
Dieses Buch hat keinen Titel. Es sind: Letzte Gespräche. Leider nicht mehr, zum Glück nicht weniger. Fragmente, nur im Ansatz berührt von jener gestaltenden Ordnung, die jedem Interview innewohnt, das man aus gesagter in geschriebene Sprache überträgt. Ich weiß nicht, was daraus geworden wäre.
Wenn ein Mensch, mit dem man eben noch sprach, gestorben ist, dann erst traut man sich eine Frage, die eine wichtige Frage schon zu Lebzeiten ist, eine Frage an jeden Augenblick Existenz: Ist die Hauptsache der Mensch oder das, was über ihn hinausgeht?« hds
Hans-Dieter Schütt: Markus Wolf - Letzte Gespräche. Das Neue Berlin. 256 S., mit zahlr. Fotos, geb., 14,90 EUR.
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