Beobachtungen im Stimmenorchester
Eine Überblicksausstellung zeigt das Werk von Jan Toorop, dem niederländischen Wegbereiter der Moderne
Wenn man diese Ausstellung - es ist überhaupt die erste große Übersichtsschau über das umfangreiche Werk Jan Toorops in Deutschland - besucht, glaubt man zunächst, man hätte es mit mehreren Malern zu tun: Eine frühe impressionistische Werkphase führt den in Java geborenen niederländischen Künstler über den Pointillismus in den Expressionismus. Symbolismus und Jugendstil sind mit seiner Vorliebe für Mystik verbunden. Märchenhafte Darstellungen in Interieurs und Landschaften wechseln sich ab mit Figurendarstellungen in monumentaler Größenordnung, in matten Farben und stilisierten Formen. Dann wieder gelangt Toorop zu einer Verfeinerung seines Zeichenstils, um die Gemütsverfassung seiner Figuren symbolisch darzustellen. Mystizismus und neugotische Kunst schlagen um in Küstenlandschaften und Darstellungen von Menschen, die sich nicht dem harten Dasein unterwerfen.
Nach seiner Konvertierung zum Katholizismus stellte Toorop sein Werk in den Dienst des Glaubens und in seinen stilisierten Köpfen der letzten Lebensjahre ist er auf der Suche nach den »Hieroglyphen des inneren Friedens«, wie er es nannte. Er gelangte zu einem monumentalen Flächenstil mit fast anthroposophischer Farbensymbolik.
Das Leben ist für diesen genialen Eklektizisten ein schmerzhafter Kampf zwischen Gut und Böse, Chaos und Ruhe, zwischen dem Verletzlichen und Aggressiven, Geist und Materie, Höherem/Mystischem und Irdischem oder auch zwischen Mann und Frau. Im Kontrast zwischen dreidimensionaler Figuration und geometrischer Abstraktion wollte er diese Lebensgegensätze optimal zum Ausdruck bringen. Dabei steht der Vielfalt der Stile die relative Konsistenz seiner Thematik gegenüber.
Wenn man glaubte, ihn jetzt stilistisch festlegen zu können, hatte er schon wieder seine Bildsprache gewechselt. Er hat immer wieder frühere Werke hervorgeholt und abermals bearbeitet, das Thema ausgeweitet, ihnen andere Titel gegeben, sie neu datiert. Sein Werk ist ein unendlich fließender, sich ständig verändernder »Work in Progress«. In bebender Linienrhythmik setzt er Bildzeichen, die entweder von gegenständlichen Bindungen abstrahiert oder frei erfunden und gefunden werden. Sie nehmen einen traumartig-schwebenden Charakter im Bildraum ein, in dem sie auftauchen, sich verhüllen, verändern und wieder verschwinden. Der Magie dieser Bildwelten wird sich auch der rational eingestellte Betrachter nicht entziehen können.
Genaue Beobachtungen der einheimischen Fischer, Dorfbewohner, sozialkritische Szenen (»Dunkle Wolken; Abend; Vor dem Streik«, 1888) stehen anfangs neben Bildnissen von Damen der höheren Gesellschaft (»Dame mit Sonnenschirm«, »Dame in Weiß«, beide 1886). Aus der pointillistischen Phase stammen »Zwei Weiden; Novembernachmittag« (1889), »Fischerboot am Strand von Katwijk« (um 1890) und die ebenfalls getüpfelten »Muschelfischer« (1891), bei denen auffällt, dass, obwohl die Leinwand sorgfältig mit kleinen Pinseltupfern überzogen ist, die Farben eine symbolistische Atmosphäre ausstrahlen.
Toorop steht dann an der Spitze der Symbolisten, in seiner Phantasie verschmelzen alle Religionen des Abendlandes und des Fernen Ostens zur Einheit. Seine Gestaltungen sind völlig von der Aussage einer arabeskenhaft-schwingenden Liniensprache getragen, mit der er symbol- und bedeutungshafte Gestalten umschreibt. In seinem Werk kommt der Jugendstil an die Grenze des Möglichen; bisweilen wird der Gegenstand bedeutungslos und nur das Linienspiel trägt noch den Inhalt.
Programmatisch »Die junge Generation« (1892): Einem Kind wird in einer üppigen Vegetation vor einem breit verwurzelten Lebensbaum die reiche Mysterienpracht einer erwarteten Zukunft offenbart. »Alter Garten der Leiden« (1892) ist Ausdruck der Angst, der wie ein Albtraum den Menschen beschleicht und um ihn herum bedrohliche stoffliche Formen angenommen hat. Von einem ganzen »Stimmenorchester« in seinen Bildern ist gesprochen worden.
Toorop verwendete jetzt ein systematisch aufgetragenes Pointillé in hellen Pastellfarben, arbeitete also nicht mehr ausschließlich symbolistisch. »Die Schwellenwächter des Meeres« (1901), schwere, große Fischergestalten, leiten eine neue Periode ein: Er wechselte von einem linearen, verfeinerten Zeichenstil zu einem ausgesprochen eckigen oder konstruktiven, architektonischen Stil. Dennoch hat er weiterhin im divisionistischen Stil Menschen bei der Arbeit, die »Apfelpflücker« und den »Holzhacker« (beide 1905) in Licht und Farbe gemalt - im Prinzip waren für ihn sämtliche Sichtweisen erlaubt; ganz gleich, in welcher Kombination.
Wenn er auch der Überzeugung war, dass nur mit einer Abstraktion der Figuren mysteriöse oder mythische Wahrheiten ans Licht gebracht werden konnten, bildet den Hintergrund vieler Szenen eben auch das moderne und als gehetzt erfahrene Leben. Gerade weil er neuen Entwicklungen gegenüber so aufgeschlossen war, hat Toorop mit seiner Assimilations- und Integrationsfähigkeit, der verwirrenden Vielseitigkeit seiner Bildsprache der niederländischen Kunst um und nach der Jahrhundertwende ungeheure Impulse gegeben.
»Jan Toorop - Gesang der Zeiten«, bis zum 21. Mai im Bröhan-Museum, Schloßstr. 1a, Charlottenburg.
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