Stullen-Dieter
Berlin gibt es jetzt 780 Jahre, und seit es sich vom sumpfigen Dorf zur fetzigen Metropole hochgefeiert hat, kamen Tausende Menschen mit extrem interessanten Macken hier her. Man nennt sie im Berlinerischen liebevoll »Bekloppte«. Menschen, die riesige Freizeitparks erbauen, pleitegehen und den sperrigen Krempel lieber mit ins Exil nehmen, als ihn dem Insolvenzverwalter zu überlassen. Menschen, die ständig missverstanden werden und das nur, weil ihnen die Computermaus des Öfteren unter dem Finger wegrutscht. Es leben hier Gangsterrapper, die gerne, so sagen es ihre Texte, anderer Leute Geschwister durch all zu intensiven Geschlechtsverkehr töten wollen und nebenbei Zierfische in Steglitz verkaufen.
Derartige Spleens werden in einer Großstadt toleriert, in der jeder seine Neurosen im Privaten so lange kultivieren kann, bis sie in voller Blüte stehen und der Öffentlichkeit präsentiert werden können. Von den oben genannten Menschen wissen wir, weil sie aus einem unerfindlichen Grund berühmt sind. Von vielen aber erfährt man nie etwas, obwohl sie doch eigentlich die viel interessanteren Hobbys haben. So wie der Fahrplan-Master, der im U-Bahnhof Alexanderplatz lässig an einen Stahlträger gelehnt jeden Wagen beim Einfahren begleitet. Seine Ansagen sind äußerst professionell intoniert, so dass sie sich kaum von der Computerstimme der BVG unterscheiden. »Meine Damen und Herren, es fährt für Sie ein: die U2 Richtung Pankow.« Dazu Ansagen zu Umsteigemöglichkeiten, Abfahrtzeiten der anschließenden Züge der S- und Regionalbahn sowie zum Wetter oberhalb des Tunnels. Er ist die Fullservice-Agentur in Polyesterjacke und mit Dederonbeutel.
Viel weniger sozial verträglich scheint einer, der seit geraumer Zeit in Biosupermärkten sein Unwesen treibt, der Stullen-Dieter. Er bestellt sich ein ganzes Schwarzbrot, lässt es sich von der Maschine in ordentliche Scheiben schneiden und achtet dabei penibel auf die richtige Dicke. Kürzlich, das Zerteilungsprozedere war gerade abgeschlossen, ruft er die Verkäuferin zu sich ran: »Das sind doch keine 10! Das sieht viel zu dünn aus, das sind niemals 10!«, die Verkäuferin, offenbar vom permanenten Wirtschaftswachstum überzeugt, fragt freundlich zurück: »Nein, das sind 9,5. Wollen Sie ein Neues?«. Was für ein Adlerauge. Ja, sagt Dieter, 9,5 sei ihm definitiv zu dünn. Er möchte ein neues ganzes Schwarzbrot. Die Verkäuferin sagt: »Sehr gerne.«
Stullen-Dieter mag man nur oberflächlich für eine Verkörperung der Bio-Idiotie halten. Nachhaltigkeit und Kapitalismuskritik sind ihm aber keineswegs schnuppe. Wahrscheinlich besitzt er entweder eine Stullendose, die nur in 10er Abmessungen Kapazitäten hat, alles andere würde dazu führen, dass am Ende des Brotes eine Scheibe übrig bliebe, mit der er nichts anzufangen weiß oder, und das ist naheliegend, Stullen-Dieter gehört einer Guerilla-Gruppe an, die dem absurden Servicehype und der sinnlosen Überproduktion die tödlichen Nadelstiche versetzen will, indem er täglich diese Show abzieht. So oder so: Berlin, bewahre dir deine Bekloppten.
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