Richtschnur oder Absperrband?
Bundesinnenminister will seine zehn Thesen zur Leitkultur als Orientierung verstanden wissen
Schwarzes Déjà-vu: Fast 17 Jahre nach dem Vorstoß des damaligen Unions-Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz, der im Oktober 2000 eine freiheitlich-demokratische Leitkultur forderte und so das Ende von »Multikulti« ausrief, machte sich ein ranghoher CDU-Politiker daran, die Debatte um das richtige Deutschsein erneut anzustoßen. Unter der Schlagzeile »Wir sind nicht Burka« veröffentlichte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) seine zehn Thesen zur Leitkultur in der »Bild am Sonntag«. Den Begriff »Leitkultur« verstehe er als eine »Richtschnur des Zusammenlebens«, schrieb der Minister. »Über Sprache, Verfassung und Achtung der Grundrechte hinaus gibt es etwas, was uns im Innersten zusammenhält, was uns ausmacht und was uns von anderen unterscheidet.«
In seinem Zehn-Punkte-Katalog hatte de Maizière zudem soziale Gewohnheiten der Deutschen hervorgehoben, die Ausdruck einer bestimmten Haltung seien: »Wir sagen unseren Namen, wir geben uns zur Begrüßung die Hand«, unterstrich der Minister. Zur Rolle der Religion schrieb de Maizière, sie müsse »Kitt und nicht Keil der Gesellschaft« sein. »Unser Staat ist weltanschaulich neutral, aber den Kirchen und Religionsgemeinschaften freundlich zugewandt«, so der Christdemokrat und fügte hinzu: »Wir sind eine offene Gesellschaft. Wir zeigen unser Gesicht. Wir sind nicht Burka.«
Es war nicht nur diese rudimentäre, offenbar auf die Zielgruppe zugeschnittene Diktion des Ministers, die für heftige Kritik sorgte. »Diese Diskussion geht an den echten Problemen in Deutschland vorbei«, sagte etwa SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann den Dortmunder »Ruhr Nachrichten« am Montag. »Unser Leitbild ist das Grundgesetz. Das gilt ohne Wenn und Aber - und zwar für alle«. Der LINKEN-Politiker Jan Korte warf de Maizière einen »Stammtisch-Blick« vor. Der »politische Pleitegeier de Maizière fischt mal wieder rechts und übersieht eines: Es gilt das Grundgesetz. Da steht alles drin«, so Korte.
Auch der Deutsche Kulturrat äußerte sich zurückhaltend. So sei der Begriff »Leitkultur« missverständlich, weil er den Eindruck erzeuge, dass es eine verbindliche Kultur für alle in Deutschland lebenden Menschen geben solle, sagte der Geschäftsführer des Kulturrates, Olaf Zimmermann.
Rückendeckung bekam der Minister hingegen aus der Union. »Es ist überfällig, dass die Debatte über Leitkultur endlich auch in Berlin geführt wird«, sagte CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer der »Passauer Neuen Presse« vom Dienstag. Ohne gemeinsame Selbstverständlichkeiten zerfalle eine Gesellschaft, betonte Scheuer. CDU-Vize Julia Klöckner sekundierte: »Was Herr de Maizière fordert, ist das kleine Einmaleins unseres Zusammenlebens in diesem liberalen Rechtsstaat«, erklärte sie. »Nicht, was Thomas de Maizière gesagt hat, ist ein Skandal, sondern das, was jetzt daraus gemacht wird«, fügte sie an die Adresse der Kritiker gerichtet hinzu. Mit Agenturen
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