Wettlauf mit dem Meer
Müssen deutsche Inseln und Halligen in der Nordsee eines Tages geräumt werden?
Gegen die Folgen des Klimawandels will Ruth Kruse noch weiter in die Nordsee bauen. »Wir trotzen dem Meer entgegen.« Seit 300 Jahren lebt ihre Familie auf Nordstrandischmoor, einer kleinen Hallig im schleswig-holsteinischen Wattenmeer. Kruses Wohnhaus aus den 1960ern steht dort 90 Zentimeter tiefer als die anderen Häuser. Der Deich umschließe es »wie eine Badewanne«, sagt die 53-Jährige. Eine neue Aufschüttung in Sichelform - eine sogenannte Klimawarft - soll der Familie in den nächsten Jahrzehnten ein Zuhause bieten. Denn der Meeresspiegel steigt.
»Die Bereiche, die als erste betroffen sein werden, werden sicherlich die Halligen sein«, sagt der Chef des Landesbetriebs für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz (LKN), Johannes Oelerich. Weil das Risiko für Überschwemmungen dort immer schon hoch war, stehen die meisten Häuser auf aufgeschütteten Siedlungshügeln, den sogenannten Warften. Vor dem Deichbau waren sie jahrhundertlang der einzig wirksame Hochwasserschutz. Doch künftig dürften viele der Hügelflächen zu niedrig sein, um weiter ausreichend Schutz vor Hochwasser zu bieten.
Mit einem 30 Millionen Euro schweren Warft-Programm will die Behörde die Halligen auf den Klimawandel vorbereiten - auch den geplanten Neubau von Ruth Kruse. Wie genau ihre Heimat vor dem Untergang geschützt werden soll, diskutierten sie und rund 25 weitere Bürgermeister und Gemeindevertreter dieser Tage bei der 39. Insel- und Halligkonferenz (IHKo). Erstmals tagte sie auf Nordstrandischmoor - und zählte dabei ähnlich viele Teilnehmer, wie die Hallig Einwohner hat.
»Die Meeresspiegelzahlen sind beunruhigend, da wir frühere Schätzungen eher nach oben als nach unten korrigieren mussten«, sagt der Potsdamer Klimaforscher Anders Levermann. »Was wir auf lange Zeitskalen leider nicht ausschließen können, ist, dass wir auch Gebiete zurücklassen müssen.« Gleichzeitig gelte aber: »Niemand muss Angst haben. Solange man das Problem ernst nimmt, kann man sich anpassen.«
»Es ist ja nichts Neues, dass die Leute umgezogen sind, dass sie die Warften verändert haben«, sagt Kruse, die als Nationalpark-Rangerin arbeitet, einen 60-Hektar-Hof mit Dutzenden Schafen führt und Feriengäste beherbergt. Ihre Familie wohnt seit 1820 auf der Norderwarft der Hallig. Zuletzt wurde ihr Haus 1976 überflutet. Damals, so erzählt sie, standen die Kühe bis zum Bauch im Wasser, den Skalar aus dem geborstenen Aquarium fand sie auf dem Sofa wieder.
Vier Generationen der Familie leben auf der Hallig - vom Baby bis zur 90-jährigen Mutter. Eine sieben Meter breite Sichel soll Kruses Warft als eine der ersten ab 2019 verstärken und um zwei Meter erhöhen. »Ist-Zustand, Meeresspiegelanstieg plus Wellenhöhe, das wird für jede Hallig individuell berechnet«, erklärt sie. Wie lange das reicht? »Die Investitionen in den Küstenschutz sind auf 100 Jahre ausgelegt«, sagt LKN-Chef Oelerich. Mit dem Spatenstich für einen höher gelegenen Supermarkt auf Hallig Hooge wurde mit dem Warft-Programm im April offiziell begonnen. Abseits der Warften hofft der LKN, dass die Halligen durch Sedimentation mit dem Meeresanstieg mithalten - etwa durch den jährlich vor Sylt aufgespülten Sand, der bei Sturmfluten immer wieder ab- und tiefer ins Wattenmeer hinein getragen wird.
Die Erhöhung der Deiche und Warften sei der richtige Weg, ist Insa Meinke vom Institut für Küstenforschung am Helmholtz-Zentrum Geesthacht überzeugt. »Eine pragmatische Strategie, die noch sehr lange funktionieren wird, aber wahrscheinlich nicht für die nächsten Jahrhunderte«, sagt sie. 4,5 Millionen Menschen an der Nordseeküste und in der Marsch bekämen ohne Deiche schon heute bei normalem Hochwasser nasse Füße.
»Man könnte heute auch schon mal anfangen, über alternative Strategien nachzudenken«, sagt Meinke, »aber das ist eine politische Frage.« Ob Inseln und Halligen irgendwann menschenleer dem Meer überlassen werden, ist längst nicht entschieden. »Für uns sind die Inseln und Halligen Bollwerke vor dem Festland und elementar für den Küstenschutz«, erklärt Oelerich. »Wir schützen Gegenden ja nicht nur, weil sie sich wirtschaftlich lohnen, sondern auch weil sie kulturell wichtig für uns sind«, ergänzt Klimaforscher Levermann.
Geht es nach Ruth Kruse, müssen auch die Halligen dauerhaft erhalten werden. »Wir machen den aktivsten Naturschutz, den man sich vorstellen kann«, sagt sie und blickt von ihrem Haus auf die Salzwiesen mit den Ringelgänsen. »Die Halligen gibt es weltweit nur einmal.« dpa/nd
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.