Fussel und andere Mythen

Franz Marcs verschollenes Meisterwerk »Der Turm der blauen Pferde« ist Thema einer Ausstellung im Haus am Waldsee

  • Richard Rabensaat
  • Lesedauer: 4 Min.

Hitlers Fussel hängt von der Decke. Groß und schwarz windet sich ein langes, dünnes Stoffobjekt im Haus am Waldsee. Es ist der Beitrag des Künstlers Peter Rösel zur aktuellen Ausstellung. Zeitgenössische Künstler interpretieren das Bild »Turm der blauen Pferde« von Franz Marc. Rösel hat einen Fussel vom Schreibtisch des Diktators mit Epoxidharz, Glas- und Flockfaser nachgebildet und ins Riesenhafte vergrößert. Der Bezug zur Nazi-Diktatur ist sinnig, denn zwischen Mai 1945 und Januar 1946 soll das Bild im Haus am Waldsee gesichtet worden sein. Was dann damit geschah, ist unklar. Nach 1937 hatte der hochrangige Nazi Hermann Göring es seiner Kunstsammlung hinzugefügt. In den Jahren 1948 und 1949 wurde das Bild im neu eröffneten Haus der Jugend noch einmal gesehen und verschwand dann, anders als das herrschaftliche Staubpartikel, das möglicherweise gar keines ist, auf Nimmerwiedersehen.

Zwar war das Bild von den Nazis für die Ausstellung »Entartete Kunst« requiriert worden, dennoch hatte es den Krieg unbeschadet überstanden. Sein derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt. Käme es bei einer Auktion zum Vorschein, würde es sicher alle Preisrekorde sprengen, mutmaßt auch Malte Roloff, Projektmanager beim Haus am Waldsee.

Denn der Turm der blauen Pferde ist eine Inkunabel des Expressionismus. In dem Bild formulierte der herausragende Münchener Maler die Essenz der damaligen Naturverliebtheit der Deutschen und der ungestümen Malerei, die sich zu der Zeit der Entstehung im Jahr 1913 unmittelbar Bahn brach. In einer Parallelausstellung in der Staatlichen Grafischen Sammlung in München und im Haus am Waldsee reagieren zeitgenössische Künstler auf die Geschichte des Bildes. Denn die ist nicht unproblematisch.

Franz Marc, der mit der Entwicklung seines malerischen Stils wesentlich zur Formulierung des deutschen Expressionismus beitrug, war nicht nur ein talentierter Reiter, sondern auch ein begeisterter Soldat, jedenfalls zunächst. Ob Marc sich freiwillig für den Kriegsdienst meldete oder eingezogen wurde, ist nicht eindeutig zu ermitteln. Jedenfalls war er erst einmal der Ansicht, das kranke Europa müsse durch den Krieg geläutert werden, wie er in Briefen von der Front schrieb. »Ich fühle mich so vollkommen wohl«, schrieb der Soldat Franz Marc zu Beginn seiner Soldatenlaufbahn an seine Frau. 1916 fiel dann Marc, der Offizier und aktiver Reiter war, bei Verdun. Zuvor war offensichtlich eine deutliche Ernüchterung eingetreten. »Es ist gar nicht zu beschreiben, was man hier erlebt! Ich kann es auch nicht schreiben! Es ist furchtbar«, notierte er am 1. März 1916, drei Tage vor seinem Tod, in einem Brief an seinen Galeristen.

Die Aufstiegschancen des umfassend gebildeten Franz Marc innerhalb des Militärs thematisiert Rémy Markowitsch in seiner audiovisuellen Installation. Marc war ein beim Militär gut angesehener Soldat. In der Installation entspinnt sich ein fiktiver Dialog der titelgebenden blauen Pferde, der auf zeitgeschichtlichen Dokumenten basiert. Marcs Hinwendung zur Tierdarstellung war auch eine Reaktion auf die als misslich empfundene menschliche Gesellschaft.

Das lebensgroße Präparat eines leibhaftigen Pferdes, allerdings von Pfeilen durchbohrt, zeigt Via Lewandowsky. Ein Vanitasmotiv kommentiert Roloff, aber das stimmt nicht ganz. Denn sinnigerweise ist das tote Tier von blauem Licht angestrahlt. Dadurch erhält es eine geisterhafte, fast mythische Anmutung. Die an sich vorhandene massive Präsenz des Tierkörpers wird wieder zurückgenommen. Dem gegenüber, an einer als Ausstellungsfläche hergerichteten Wand, erscheint eine Leerstelle. Die jedoch ist sorgsam inszeniert und dokumentiert. Christian Jankowski verhandelt ein fiktives Ausstellungsprojekt, bei dem das Bild aus dem imaginierten Bestand in der neuen Nationalgalerie ins Haus am Waldsee geschafft wird. Der Briefwechsel, die Versicherungssumme, das Kontrollgerät für die richtige Lufttemperatur des Ausstellungsortes, alles ist stimmig inszeniert.

Auf einem beigestellten Video ist der Ablauf der Auswahl und Hängung des Bildes für die Ausstellung dokumentiert. Zu sehen ist: die weiße Wand. Der gegenüber: das ausgestopfte Pferd. So entsteht durch die geschickte Präsentation ein interessantes Spannungsfeld. Da wäre einerseits das physisch präsente, gemarterte Tier, denn schließlich verweisen die Pfeile eindeutig auf das allbekannte Thema des »Heiligen Sebastian«. Andererseits ist da der Hinweis auf die inhärente Virtualität der Kunst, die doch stets von der Interpretation und Imagination des Betrachters abhängt. Die überaus gelungene Ausstellung zeigt so mit wenigen Werken einen konzentrierten Blick in die bewegte Geschichte des vermissten Bildes und die Mythen der klassischen Moderne.

»Vermisst: ›Der Turm der Blauen Pferde‹ von Franz Marc«, bis zum 5. Juni im Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, Zehlendorf

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