Im schottischen Parlament
Martin Leidenfrost begegnete in Edinburgh einem slowakisch-britischen, konservativ-liberalen Tory
All die zwölf Jahre, die ich in der Slowakei lebte, verstörte mich die Bedingungslosigkeit, mit der sich ein großer Teil der slowakischen Elite an westliche, neoliberale, NATO-bellizistische Interessen verkauft hat. Nun kommt mir folgendes unter: Der schottische Programmchef der Tories, die während der Brexit-Kampagne gegen Migranten aus Osteuropa hetzten, ist ein slowakischer Migrant. Dieses Exemplar muss ich mir anschauen.
Ich spaziere durch das österliche Edinburgh zum schottischen Parlament. Ein Parcours zwischen Souvenirshops, das dauernde Dudelsackgebläse zehrt an den Nerven. Immerhin lockt das billige Pfund die angenehmsten aller Touristen, an jeder Ecke ist Französisch zu hören.
Marek Zemanik, ein unauffälliger bebrillter Jüngling, führt mich mit dem Gang einer Sprungfeder durchs Parlament. Er leitete für die schottischen Tories die Kampagne gegen die Unabhängigkeit und schrieb das letzte Wahlprogramm. Die Erfolge von 2014 und 2016 gaben ihm Recht: Die Tories, in Schottland lange als englischer Klüngel für Landadelige im grünen Grenzstreifen zu England verschrien, sind nun die größte Oppositionspartei. Seine Parteichefin Ruth Davidson - laut Zemanik »eine junge kickboxende Arbeiterklassen-Lesbe mit breitem schottischen Akzent« - lässt sich vor jedem Auftritt von ihm briefen.
Seine Frau ist Schottin, mit seinem kleinen Sohn behauptet er Slowakisch zu sprechen, und doch rutscht ihm immer mehr Englisch in das auf Slowakisch geführte Gespräch. Er kam dank des EU-Programms Erasmus nach Schottland, das Ja zum Brexit erlebte er daher als Schock. Was sucht er also in einer Partei, deren Ministerin Priti Patel gegen Osteuropäer vom Leder zieht? Nur die Leavers, die Brexit-Befürworter, seien für die Vollmacht des britischen Parlaments eingetreten, Einwanderung zu kontrollieren, sagt er. »It does not follow, dass ich für eine Partei arbeite, die Osteuropäer rausschmeißen will. Für jede Priti Patel gibt es in der Partei zwei Ruth Davidsons.« Er behauptet, es gebe bei den Tories auch Euro-Föderalisten. Ich stöhne auf. Bei Thatchers und Camerons Tories, diesen den Kontinent traditionell verachtenden Eigenheim-Freihandel-Finanzmarkt-Jüngern? Er rudert zurück, das Verhältnis der Tories zu Europa sei wohl eher »utilitaristisch«. Trotz der 62 Prozent, die in Schottland gegen den Brexit gestimmt haben, nennt er es einen »Mythos«, dass Schottland pro-europäisch sei. Ein unabhängiges Schottland, an das er nicht glaubt, werde höchstens der EFTA beitreten, der Europäischen Freihandelsassoziation.
Ich frage ihn nach seiner Herkunft. Eine »absolut atheistische Familie«, slowakisch-wienerisch-ungarisch gemischt, der Opa ein russischer Kommunist, der nicht in Sowjetrussland leben wollte. Als die Tschechoslowakei 1993 zerfiel, war er sieben. »Zu Silvester kuckten wir mit tschechischen Freunden in Budapest fern, und als nur noch die slowakische Hymne gespielt wurde, weinten wir.« In der Slowakei ging er auf ein englisch-bilinguales, vom British Council finanziertes Gymnasium. »Die Slowakei ist ein Teil von mir, wie auch die Tschechoslowakei. Schottland ist ein Teil von mir, wie auch das Vereinigte Königreich.«
Ich frage ihn nach den Werten der Tories. Ihr Programmchef schluckt: »Das ist das Thema, bei dem ich mich wohl am meisten uncomfortable fühle. Ich weiß nicht, ob wir so was wie langfristige Werte haben.« Er quält sich: »Conservative«, aber »sicher eher auf der liberalen Skala«, »wir sind traditionally low-tax pro-business«, »in der Mitte«, »a broad church«. Er hat auch neue Themen im Programm, »mental health« etwa. Mental health? Selbstmorde und Depressionen, erklärt er, »und wieviel das an Arbeitsleistung kostet«.
Wir enden in der Parlamentskantine, er lädt mich per Bezahl-Handy auf eine nahrhafte Fischsuppe ein. Ich mache ihm ein Kompliment für sein faltenloses Gesicht: »Sind Sie Abstinenzler?« Die Antwort stellt den Rest von Zemaniks Restehre vor mir wieder her: »Mit dem Rauchen habe ich aufgehört, aber klar trinke ich. Welcher Slowake trinkt nicht!«
Hinter dem Parlament ragt der dunkelsteinerne Hausberg auf. Der Marathonläufer, der auch schon Loch Ness-Inverness gemacht hat, joggt öfters um ihn herum. Hinterher marschiere ich hinauf. Von feuchten Windböen gepeitscht, frage ich meine slowakische Frau, ob sie unsere künftigen Kinder auch nicht in eine englisch-bilinguale Schule stecken will. Ich habe die beste Ehefrau der Welt - sie verneint entrüstet.
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