Der begrenzte Reiz der Autonomie
Im Kino: »Berlin Rebell High School« über die »Schule für Erwachsenenbildung« in Berlin-Kreuzberg
Im vergangenen Jahr verließen knapp 50 000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss; das waren rund 5,5 Prozent des Jahrgangs. Die Zahlen sind alarmierend und beruhigend zugleich. Alarmierend, weil sie bedeuten, dass jeder 20. Jugendliche nicht einmal einen Hauptschulabschluss und damit so gut wie keine berufliche Perspektive hat, beruhigend, weil die Zahl seit vielen Jahren annähernd konstant ist, ohne dass deshalb das Berufsbildungssystem oder die Wirtschaft kollabiert wären. Doch abseits diese Zynismus existiert noch ein anderes Problem: Es gibt noch viel mehr junge Menschen, die im und am hiesigen Schulsystem gescheitert sind und die in der eingangs erwähnten Statistik gar nicht auftauchen: Schülerinnen und Schüler, die zwar den Hauptschulabschluss in der Tasche haben oder nach der 10. Klasse die Mittlere Reife (und damit formal vom Staat aus der Schulpflicht entlassen wurden), denen das deutsche Schulsystem jedoch den Bildungsaufstieg zum Abitur so gut wie unmöglich macht.
Von diesen jungen Menschen erzählt der Dokumentarfilm »Berlin Rebel High School«. Im Fokus steht die »Schule für Erwachsenenbildung« (SFE) in Berlin. Formal ist die SFE eine Privatschule ohne eigene Prüfungsberechtigung, die ihre Schülerinnen und Schüler zur Mittleren Reife, die meisten aber zum Abitur führt. Doch das Label »Privatschule« führt auf die falsche Fährte. Die SFE ist ein Kind der Bildungsrebellion der 68er-Bewegung. 1973 gründeten Bildungsaussteiger in Kreuzberg diese Schule, Ende der 1970er kaufte man zusammen mit anderen linken Projekten ein Gebäude, den heutigen Mehringhof. Dort existiert diese Schule noch immer - als von Schülern betriebene Bildungseinrichtung ohne klassischen Lehrplan, ohne Notendruck und mit Lehrern, die Angestellte »ihrer« Schülerinnen und Schüler sind. Alle Schüler verbindet, dass sie bereits 18 Jahre alt sind und keine herkömmliche Bildungsbiografie vorweisen können. Die SFE wird ausschließlich durch das monatliche Schulgeld finanziert. Eine öffentliche Förderung hat die Schule nie erhalten, und sie wollte dies auch nicht, um ihre Unabhängigkeit bewahren zu können. Mehrfach drohte der Einrichtung daher bereits die Insolvenz.
Alexander Kleider, der Regisseurs des Films, ist selbst Absolvent dieser Schule, hier hat er nach einer Erzieherausbildung im Jahr 2000 auf dem zweiten Bildungsweg sein Abitur abgelegt. In »Berlin Rebel High School« erzählt er allerdings ganz andere Bildungsbiografien. Mimy Girnstein (21) aus Berlin ging nach der 12. Klasse vom Gymnasium ab, weil sie mit der Disziplinierung und dem Konkurrenzdruck dort nicht mehr klarkam; ähnlich erging es Florian Geissler (25) aus Hessen. Alex Bäke (24) aus Luckenwalde hat vier Schulabbrüche hinter sich; Lena Christof (21) aus Mecklenburg-Vorpommern wurde jahrelang von rechten Lehrern und Schülern gemobbt und brach nach der 9. Klasse die Schule ab; Marvin Metag (24) aus Bremerhaven scheiterte an fünf Schulen, bevor er an die SFE kam; Hanil Altunergil (23) aus Aachen, war schon Schulverweigerer, bevor er wegen Marihuana-Konsums offiziell von der Schule flog.
Diese sechs jungen Menschen hat Alexander Kleider drei Jahre lang bis zum Schulabschluss begleitet. In diesen drei Jahren verändern sich die sechs. Für die meisten sollte das Abitur anfangs nicht mehr als ein Beweis dafür sein, dass sie es entgegen den Prognosen der Lehrkräfte an den staatlichen Einrichtungen doch schaffen können. Einige entwickeln kurz vor dem Abschluss dann doch Ehrgeiz. Von Lena Christof etwa, die Punkerin aus dem Nordosten, die mit ihrem Hund zur Schule kommt, erfährt man im Abspann des Films, dass sie eine Ausbildung in einer Tierarztpraxis absolviert mit dem Ziel, im Anschluss Tiermedizin zu studieren. Und Hanil Altunergil, der zu Beginn große Zweifel hat, ob er überhaupt drei Jahre Schule durchhalten kann und will, studiert heute Maschinenbau; für dieses Ziel hat er das Kiffen aufgegeben.
Was der Film nur andeutet, aber nicht ausdrücklich erzählt, ist die Tatsache, dass auch an der SFE die Abbrecherquote hoch ist. Manche können das Schulgeld nicht mehr aufbringen, andere scheitern daran, dass diese Schule auf ein Extremmaß an persönlicher Motivation und Freiheit setzt. Der Fachbegriff dafür lautet »intrinsische Motivation« und meint, dass Menschen um der Sache selbst willen lernen oder arbeiten. Das Gegenteil ist die »extrinsische Motivation«, die durch »äußere« Anreize wie Zwang, Strafe oder Belohnung funktioniert. Nachhaltig ist nur das, was aus »innerer« Einstellung heraus getan wird.
Auch die Lehrer an der SFE brauchen ein hohes Maß an »intrinsischer Motivation«. Die äußeren Anreize sind nämlich gering. 12,50 Euro brutto pro Stunde beträgt der Einheitslohn. Altersarmut ist bei einer zu erwartenden Rente von 800 Euro im Monat programmiert. Klaus Trappmann ist Deutschlehrer an der SFE, einer, für den dieser Beruf Berufung ist. 2500 Schülerinnen und Schüler hat der mittlerweile 69-Jährige in den vergangenen Jahrzehnten an der SFE zum Abitur geführt, und man merkt ihm an, dass er das auch noch viele Jahre weiter machen kann und will. Doch leben kann er von dem Beruf nicht; seinen Lebensunterhalt bestreitet er unter anderem als Radioautor, Filmemacher und Organisator von Ausstellungen.
Die Zahl der Schüler hat sich an der SFE in den vergangenen Jahren stark reduziert. Ein Grund hierfür ist sicherlich der, dass ein Leitmotiv der Schule, dass es nicht nur einen Weg zur Universität geben darf, mittlerweile in der Gesellschaft Konsens ist. Das deutsche Schulsystem ist insgesamt durchlässiger geworden. Für ihre diesbezügliche Pionierarbeit wurde die SFE 2016 mit dem zweiten Platz beim jährlich von der Robert-Bosch-Stiftung und der Heidehof-Stiftung zusammen mit dem Magazin »Stern« und der ARD ausgelobten »Deutschen Schulpreis« ausgezeichnet. Auch die SFE habe in den vergangenen Jahren »viel gelernt«, heißt es auf der Webseite der Bosch-Stiftung. Besonders positiv sei, dass man 2014 ein Tutorenmodell eingeführt habe. Zwei Lehrkräfte begleiten seitdem ein Klasse von Beginn an bis zum Abitur, geben Hilfestellungen, wenn die Selbstständigkeit Probleme bereitet. Früher sei ein solcher Eingriff in die Autonomie einer Klasse unvorstellbar gewesen, doch »heute überzeugt die Erkenntnis, dass absolute Unabhängigkeit auch einsam machen kann«.
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