Klingeling, hier ist der Supermarkt
Amazon Fresh und andere wollen mit Lieferdiensten den Lebensmittelhandel revolutionieren
Die angebliche »Revolution« des Lebensmittelhandels klingelt um 19.14 Uhr - im vorab übers Internet verabredeten Zeitfenster von 18 bis 20 Uhr. Ein Fahrer des Paketdienstes DHL steht mit drei großen Tragetaschen vor der Wohnungstür und entnimmt diesen weitere Packpapiertüten mit den Lebensmitteln. Obst, Eier, Gemüse und Milch sind extra mit Kühlelementen kalt gehalten. Der offensichtliche Knochenjob stellt für den Fahrer auf Nachfrage indes kein Problem dar. »Es ist anstrengend, aber ich habe mich daran gewöhnt«, sagt er lachend.
Seit Ende vergangener Woche bietet der Konzern Amazon seinen neuen Lieferdienst »Amazon Fresh« auch in Teilen der Hauptstadt und in Potsdam an. Die US-Amerikaner wollen mit dem Angebot nichts weniger als den hart umkämpften Lebensmittelmarkt aufmischen. Einige Experten sehen in dem Lieferdienst gar den Anfang vom Ende des Supermarktes um die Ecke voraus. Der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Deutschland (HDE), Stefan Genth, sagt: »Mit Amazon wird sich der Wettbewerb im Lebensmittelhandel weiter verschärfen.« Auch der Bundesverband der Verbraucherzentralen (VZBV) sagt, dass durch den Markteintritt wieder Bewegung in den hoch konzentrierten Lebensmittelmarkt kommen könnte, der nach Fusionen und Zusammenschlüssen bisher Edeka, REWE, Aldi und der Lidl-Gruppe dominiert wird.
Grundsätzlich kann man beim Amazon Fresh im Internet nur bestellen, wenn man einen kostenpflichtigen Amazon Prime-Zugang besitzt, über den auch der Zugang zum Online-Supermarkt freigeschaltet wird. Der erste Testmonat ist kostenlos, danach kostet der Lieferdienst pro Monat 9,99 Euro. Ab einem Mindestbestelltwert von 40 Euro sind die Lieferungen kostenlos, darunter werden Gebühren fällig. Bestellungen, die bis 12 Uhr mittags aufgeben werden, sollen noch am selben Abend geliefert werden. Bei einer Bestellung bis 23 Uhr kommt die Ware am kommenden Tag. »Wir wollen die Kunden in die Lage versetzen, einen kompletten Wocheneinkauf inklusive frischer und gekühlter Ware von Zuhause erledigen zu können«, sagt der Deutschland-Chef von Amazon-Fresh, Florian Baumgartner.
Bevor der Lieferdienst auf ganz Deutschland ausgeweitet wird, soll das Angebot durch das Feedback der Nutzer verbessert werden. Deshalb der auf Teile Berlins und Potsdams beschränkte Testlauf. In der Vergangenheit war bei Pilotphasen in anderen Städten im Ausland häufiger über Probleme berichtet worden.
Beim regionalen Ableger des Handelsverbandes Deutschlands beobachtet man den Testlauf ebenfalls mit Interesse. »Das wird uns ordentlich durchschütteln, so wie es das im sonstigen Onlinehandel auch schon macht«, sagt der Hauptgeschäftsführer des HDE Berlin-Brandenburg, Nils Busch-Petersen. Für den stationären Einzelhandel sei das eine große Herausforderung. Irgendwann brauche es aber auch Rahmenbedingungen. Schließlich würden viele Lieferfahrzeuge keine Ladenzeile ersetzen. Und eine enthandelte Stadt könne niemand wollen, betont Busch-Petersen.
Beim Testkauf in dieser Woche zumindest funktioniert Amazon Fresh in Berlin allerdings schon erstaunlich gut. Denn es kommen alle Lebensmittel extra verpackt und beschriftet, es fehlen auch keine Produkte oder es werden keine falschen Sachen angeliefert. Die Mango ist allerdings nicht ganz reif. Das Unternehmen sagt: Bei frischer Ware, die nicht den Erwartungen entspricht, solle der Kaufpreis zurückerstattet werden.
Der Einkauf selbst funktioniert im Übrigen sehr einfach über eine Onlineseite. Trotz der großen Anzahl von 85.000 Markenartikeln, die der Händler in seinem Sortiment führt, ist die Homepage einigermaßen übersichtlich. Es lässt sich beispielsweise problemlos zwischen verschiedenen Lebensmittelkategorien navigieren, aber auch nach sogenannten Themenwelten wie »Bio«, »Vegan«, »Glutenfrei« oder »Laktosefrei« suchen. In Berlin sind zwecks lokaler Anbindung auch viele Produkte von 25 örtlichen Geschäften wie der Kaffeerösterei Sagers, dem Feinkosthandel Lindner oder dem Schokoladenhaus Rausch enthalten. Für die Berliner Unternehmen bietet der Test die Möglichkeit, neue Käuferschichten zu erschließen, sagt Baumgartner.
Nach dem Einkauf im Netz gibt es eine übersichtliche Einkaufsliste per E-Mail und noch mal einen Hinweis per SMS, in welchem Zeitfenster der Lieferant eintreffen wird. Außerdem kann der Einkauf noch angepasst oder erweitert werden.
Eine Kurzstudie des Internetvergleichsportals »guenstiger.de« zu den Preisen der Plattform kommt zu folgendem Ergebnis: Bei 50 von 100 Produkten ist Amazon Fresh günstiger als andere Anbieter. Außerdem bietet Amazon Fresh in 47 Fällen gemeinsam mit Rewe oder Kaufland oder beiden das günstigste Angebot an. Das Fazit: Bei der Hälfte der Produkte ist Amazon Fresh günstiger, bei etwa der Hälfte der Produkte genauso teuer wie die Lieferdienste von Rewe und Kaufland. Der Preisvergleich berücksichtigt aber nicht die bereits erwähnten Gebühren, die für den Service gezahlt werden müssen. Wahrscheinlich lohnt sich der neue Lieferdienst deshalb nur für Vieleinkäufer. Kommentar Seite 4
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