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Im Morgengrauen

  • Andreas Gläser
  • Lesedauer: 3 Min.

Schon wieder höre ich früh um Fünf das grauenhafte Gurren und Flattern der Tauben durch mein geöffnetes Fenster. Frau Hundertmark schräg unter mir kann mal wieder nicht schlafen. Sie serviert den Tauben das Frühstück auf dem Gehweg. Wie oft soll ich noch mit vom Schlaf verkniffenen Augen auf sie herabsehen und ihr mit irgendwelchen Phantasieparagraphen drohen? Normalerweise reicht doch mein Zivilbullencharme.

Zumindest in den Kneipen, in denen manch ein Held in sein Bierglas weint, weil früher alles besser war. Dort fragte man mich schon unvermittelt: »Sach ma, biste Zivi oder wat!?« - »Ja.« Ach, wieso soll der Staat seine Zivilbeamten in solche Kneipen beordern, zumal er die Trinker schon dort hat, wo er sie haben will, nämlich im gesellschaftlichen Abseits? »Sach ma, biste Zivi!?« Immer derselbe Witz.

Und die Hundertmark kann auch nicht drüber lachen, weil sie ihn nicht versteht. Sie hat die Taubengrippe. Sie müffelt ein bisschen und gurrt mitunter; vor allem interessiert sie sich nicht für dieses Ideologenschach. Doch sie macht, was sie will, füttert die Tauben, früh um Fünf. Ich gehe in die Küche, nehme einen Kanten Brot, schlendere auf den Balkon und bewerfe sie mit Krümeln. Sie guckt irritiert zu mir herauf, ich gucke charmant auf sie hinab. »Guten Morgen, Frau Hundertmark! Brot für die Welt!« Noch etwas schlaftrunken antwortet sie: »Kannste nich schlafen? Scheiß-Hitler-Stalinist!« Sie verschwindet und schließt ihr Fenster. Wir mögen uns nicht.

Einmal hatte ich an meiner Wohnungstür ein Foto von mir, sozusagen das Foto zum Namen. Einige Tage später malte jemand ein Hitler-Bärtchen darauf. Das sah irgendwie unecht aus, deshalb habe ich mein verunstaltetes Foto abgerissen und ein Hitler-Foto rangeklebt. Aus Gründen der Deeskalation klebte ich daneben ein Foto von Stalin und schrieb darauf: »Stalin gegen Hitler 1:0.« Ein Witz, die Hundertmark hat ihn wieder nicht verstanden. Das liegt am unregelmäßigen Schlaf. Was soll ich machen? Früh um Zehn nach Fünf vom Balkon gucken? Ja. Ich gucke runter auf die Straße, auf die hungernd umherirrenden Federviecher. Eine Taube ist schon gestorben und wird von einer Krähe gefleddert.

Ja, ich trage eine Mitschuld, auch am Zweiten Weltkrieg. Die Welt ist trotzdem schön, und am schönsten ist es in Prenzlauer Berg. Ich bin glücklich, in einem Staat zu leben, in dem die Kaufhallen nicht rund um die Uhr geöffnet haben; in einem ordentlichen Staat mit halbwegs strengen Ladenschlussgesetzen. Von mir aus können die noch strenger gehandhabt werden. Zum Glück lebe ich nicht in einem Staat, in dem die Schlafwandler mitten in der Nacht ihre Einkaufswagen vor sich herschieben.

Wer keine strengen Ladenschlussgesetze will, keine Deutsche Industrie-Norm und kein herrliches Morgengrauen, der soll doch rübergehen, zu den Taubenzüchtern im Ruhrpott, oder so ähnlich.

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