Phänomen Sebastian Kurz
Auf den Trümmern der ÖVP will der 30-Jährige Bundeskanzler in Österreich werden
Als der damalige Chef der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und Vizekanzler Michael Spindelegger im April 2011 einen 24-jährigen Jungspund zum Staatssekretär für Integrationsfragen machte, glaubte man an einen Scherz. Sein Name, Sebastian Kurz, war nur in der Jugendorganisation der Partei bekannt. Kaum einer hätte gedacht, dass dieser Mann sechs Jahre später die letzte verbliebene Hoffnung der großen bürgerlichen Partei sein würde.
Sebastian Kurz ist Jahrgang 1986. Er stammt aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, wuchs im roten Arbeiterbezirk Wien-Meidling auf, in dem er auch heute noch wohnt. Seine Schulklasse hatte den für diese Gegend typischen Reiz einer wilden, multikulturellen Mischung. Mit 16 Jahren, so erzählt er gerne, habe er im Büro der ÖVP angerufen und gefragt, wo er mitarbeiten könne; woraufhin er die Auskunft bekommen habe, dass er wohl noch zu jung für die Politik sei. Seine schlagfertige Antwort: Dieses Problem wird von Tag zu Tag kleiner.
Seine Karriere gestaltete sich kometenhaft. Mit 23 wurde er Bundesobmann der jungen ÖVP, zog ein Jahr später in den Wiener Gemeinderat ein, wurde im Jahr darauf Staatssekretär und übernahm 2013 mit 27 Jahren das Außenministerium. Vor zehn Tagen setzte er sich dann nach dem überraschenden Rücktritt von Parteichef Reinhold Mitterlehner an die Spitze der ÖVP und zwang sie gleichzeitig in die Knie. Zu den Nationalratswahlen am 15. Oktober wird er mit einer eigenen »Liste Sebastian Kurz - Die neue Volkspartei« antreten. Die Erstellung der Kandidatenlisten hat er sich persönlich gesichert, die Partei verpflichtete er, sein autokratisch ausgerichtetes Projekt zu finanzieren. Kein Wunder, dass er bei einem derart umfangreichen politischen Arbeitspensum bislang nicht dazu kam, sein Jura-Studium abzuschließen.
In den knapp vier Jahren als Außenminister hat sich Kurz sowohl auf der internationalen Bühne als auch in der heimischen Politarena Respekt verschafft. Die Sperrung der Balkanroute für Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan ist nicht zuletzt ihm zu verdanken. Finanzielle Zuwendungen überzeugten die makedonische Regierung, die Grenze zu Griechenland dicht zu machen.
Auch weigerte sich Kurz zu Anfang der großen Flüchtlingszuwanderung 2015, in den Chor der Orbán-Kritiker einzustimmen, die dem ungarischen Regierungschef repressive Maßnahmen gegen Flüchtende und unsolidarisches Verhalten gegenüber Berlin und Brüssel vorwarfen. Dass Ungarn damals nur am gemeinsam ausverhandelten Dublin-Abkommen festhielt, nach dem das EU-europäische Erstankunftsland (Griechenland war von der Regelung ausgenommen) für die Aufnahme von Asylsuchenden zuständig war, wird zwar heute vielfach anerkannt, galt damals jedoch als zynisches Argument. Und die Tatsache, dass die muslimischen Flüchtlinge nicht nach Ungarn wollten, sondern eben nach Deutschland, überhörte man gerne. Zuletzt ließ Kurz in der Migrationsfrage mit dem unappetitlichen Vorschlag aufhorchen, diese in nordafrikanische Lager zu stecken.
An anderer Stelle mit ähnlichen Teilnehmern reiht sich der junge Kanzlerkandidat in die immer breiter werdende Querfront der Islamfeinde ein. Bisheriges Meisterstück: die Inkraftsetzung des neuen österreichischen Islamgesetzes, das die ausländische Finanzierung von Moscheen verbietet, eine deutschsprachige Kodifizierung des Koran festschreibt und dem Bundeskanzler - also möglicherweise demnächst ihm selbst - die Macht gibt, als oberste zuständige Behörde muslimische Vereine zu verbieten. Dazu machte sich Kurz für ein Burka-Verbot stark, das im Herbst in Kraft tritt. Seine Forderungen, die EU-Aufnahmegespräche mit der Türkei zu beenden, teilen mittlerweile sämtliche Parteien in Österreich.
Überhaupt kommt die grassierende Islamfeindlichkeit in vielerlei Verkleidungen daher: Am beliebtesten sind die Vorwürfe gegen den Vormarsch des »politischen Islam« und ein von links bis rechts betriebenes Türkei-Bashing. Da passt es dann auch gut, dass man zu dem bereits fünf Mal verlängerten Ausnahmezustand in Frankreich, der eindeutig auf Muslime zielt, schweigt.
Kurz beginnt auch, wirtschafts- und sozialpolitische Pflöcke einzuschlagen. Diese weisen oft eine rechte Schräglage auf. So hat er aus dem Brexit-Referendum gelernt, dass es bei den Einheimischen gut ankommt, Familienbeihilfe für ArbeiterInnen, deren Kinder in Rumänien oder Bulgarien leben, der dortigen Kaufkraft anzupassen und sie damit billiger zu machen. Einer Sozialunion steht er ablehnend gegenüber.
Aktuellen Umfragen zufolge liegt Sebastian Kurz in der Kanzlerumfrage mittlerweile mit 31 Prozent vor SPÖ-Chef Christian Kern und FPÖ-Mann Heinz-Christian Strache (28 bzw. 26 Prozent). Um diesen Dreikampf wird es am 15. Oktober gehen. Da eine neuerliche Koalition aus SPÖ und ÖVP - zumindest mit den zurzeit handelnden Personen - ausgeschlossen werden kann, wird sich die nächste Regierung am wahrscheinlichsten aus Ministern der »Liste Kurz« und der FPÖ zusammensetzen. Die inhaltlichen Schnittmengen sind hier am größten. Noch gibt sich die SPÖ allerdings nicht geschlagen und berät, ob und wie auch sie nach den Wahlen ein Angebot an die FPÖ machen soll.
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