Wie Hessens drittgrößte Stadt entsteht
Im Odenwald fusionieren vier Gemeinden aus Finanznot - man erhofft sich höhere Zuwendungen seitens des Landes
Im dünn besiedelten Süden des hessischen Odenwaldkreises ist die Fusion der Gemeinden Beerfelden, Hesseneck, Sensbachtal und Rothenberg zur neuen 10 000 Einwohner-Stadt Oberzent nicht mehr aufzuhalten. Während es in anderen Regionen in Sachen Gemeindefusion oftmals Streit gibt bis hin zur Verweigerung landespolitisch verordneter Zusammenschlüsse, herrscht in diesem Fall viel Einvernehmen.
Anfang Mai unterzeichneten die vier Bürgermeister einen Grenzänderungsvertrag, der Einzelheiten der Fusion zum 1. Januar 2018 regelt. Zuvor hatten Aufsichtsbehörden und kommunale Gremien grünes Licht gegeben. Dass 2016 im Bürgerentscheid 82,6 Prozent dem Zusammenschluss zustimmten, gilt als gutes Omen für ein freiwilliges Zusammenwachsen. Die Fusion sei «ein Beitrag zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung» und habe «Vorbildcharakter» für andere hessische Kommunen«, so die Präambel. Oberzent wird mit 165 Quadratkilometern von der Fläche her nach Frankfurt am Main und Wiesbaden die drittgrößte Stadt in Hessen sein. Der Name leitet sich von der Bezeichnung Zent für mittelalterliche Gerichtsbezirke ab und wird seit Jahren von Einrichtungen und Vereinen benutzt.
Der Vertrag umreißt kommunale Aufgaben von der Haushaltsführung über Bauleitpläne und Feuerwehren bis zur Wasserversorgung und Abwasserreinigung. Damit die besonderen Belange der 13 Ortsbezirke auch zur Geltung kommen können, sollen Ende April 2018 neben der Stadtverordnetenversammlung und einem neuen Bürgermeister auch Ortsbeiräte gewählt werden, die dem Magistrat beratend zur Seite stehen. Von Januar 2018 bis zum Wahltermin soll ein vom Land Hessen eingesetzter kommissarischer Bürgermeister die Verwaltung leiten. Die Protagonisten der Fusion versprechen sich Kosteneinsparungen durch Synergieeffekte und höhere jährliche Zuweisungen des Landes für die neue Stadt, die mit einem Plus von 900 000 Euro zu Buche schlagen dürften. In Hessen werden Städte und Gemeinden mit mehr als 7500 Einwohnern vom Land finanziell besser ausgestattet als kleinere Kommunen.
Auch der Wegfall von Bürgermeisterstellen entlastet die Stadtkasse. Dass drei Rathauschefs ohnehin nicht mehr antreten wollten, verhindert Rivalitäten. Eine Veränderung der Adressangaben auf Ausweisen, Pässen und Kfz-Papieren per Aufkleber werde für die Bürger kostenfrei sein, der Verwaltungsaufwand sei vertretbar, heißt es im Vertrag. Oberzent hat künftig die Postleitzahl 64760. Über neue Straßennamen wegen bestehender Dopplungen wurde bereits Einigung erzielt.
Gleichzeitig können die bisherigen kommunalen Beschäftigten auf »Besitzstandswahrung« hoffen. Laut Vertrag gibt es keine betriebsbedingte Kündigungen. Erworbene tarifliche Ansprüche, Eingruppierungen und Zuschläge bestehen weiter. Die Stadt wird dem Kommunalen Arbeitgeberverband und dem Dachverband für Betriebsrenten angehören.
So begrüßte denn auch der DGB-Ortsverband Oberzent das Ganze als »vorbildlich« und die Fusion als Chance für Oberzent. Gleichzeitig weisen die Gewerkschafter jedoch darauf hin, dass die wesentliche Triebfeder der Fusion in der chronischen Unterfinanzierung hessischer Kommunen liege. Trotz aller Verbesserungen werde sich auch für Oberzent dieses Grundproblem nicht ändern.
»Aus einem Zusammenschluss von vier Armen wird kein Wohlhabender«, so DGB-Ortsverbandschef Lothar Löll gegenüber »nd«. »Bund und Land müssen endlich die Unterfinanzierung der Kommunen beenden und die kommunale Selbstverwaltung wieder herstellen«, fordert der Gewerkschafter. Oberzent sei flächenmäßig größer als Offenbach, müsse aber mit sehr viel weniger Einwohnern für die Infrastruktur einer größeren Fläche aufkommen, so DGB-Regionssekretär Horst Raupp.
Die an Bayern und Baden-Württemberg grenzende Region Oberzent nimmt mehr als ein Viertel der Fläche des Odenwaldkreises ein, stellt aber nur ein Zehntel der Kreisbevölkerung. Seit der Jahrtausendwende sank die Einwohnerzahl von über 11 000 auf rund 10 000. Hinzu kommen die Probleme durch das steigende Durchschnittsalter.
Die anstehende Fusion ist die erste kommunale Neubildung in Hessen seit Jahrzehnten. Trotz des Diktats knapper Kassen könnte sie sich als Vorbild für »Freiwilligkeit« erweisen. Ende der 1970er Jahre war der Versuch, aus Gießen, Wetzlar und umliegenden Gemeinden die neue mittelhessische Metropole Lahn zu bilden, schon zweieinhalb Jahre nach der Fusion unter dem Druck massiver Bürgerproteste gescheitert.
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