Der pragmatische Utopist
Rüdiger Sagel über sein Jahrzehnt bei der Linkspartei, notiert von Gabriele Oertel
In zehn Minuten kommt der Zug. Gestern Abend habe ich mich mal hingesetzt und ein paar Notizen gemacht. Liegt eben vieles schon so lange zurück, worüber die Journalistin vom »nd« nachher mit mir sprechen will: mein Jahrzehnt bei der Linkspartei. Hoffentlich stellt sie sich nicht vor, dass ich zur großen Lobeshymne aushole. Erstens ist das ohnehin nicht meine Sache und zweitens besteht dafür auch aktuell zu wenig Anlass.
Nehmen wir nur die gerade erst stattgefundenen Landtagswahlen bei uns hier in Nordrhein-Westfalen. Da hat die LINKE eine herbe Wahlschlappe erlitten und kam erneut nicht in den Düsseldorfer Landtag. Richtig ist zwar, dass sie das Resultat im Verhältnis zu 2012 fast verdoppelt hat. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass wir vor fünf Jahren ein äußerst desolates Wahlergebnis hatten. Ein Schönreden hilft uns jedenfalls jetzt genauso wenig weiter wie die Schadenfreude über die Einbrüche von SPD und Grünen. Zumal zur ehrlichen Auseinandersetzung mit unserem Wahlergebnis gehören müsste, dass wir zugeben, auch Fehler gemacht zu haben. So haben wir uns, statt eigene Ziele zu betonen, zum Ärger vieler Wählerinnen und Wähler schon im Wahlkampf mehr an SPD und Grünen abgearbeitet und viel zu wenig mit der politischen Rechten von FDP über CDU bis hin zur AfD auseinandergesetzt. Vor zwei Jahren schon habe ich in meinem Strategiepapier »Schrei nach Freiheit« festgestellt, dass die LINKE eine zutiefst gespaltene Partei ist - und daran hat sich bis heute und bis in die kommunalen Ebenen in den Kreisverbänden nichts geändert. Insbesondere bei uns im Westen. Machen wir uns nichts vor: Die berühmte Westausdehnung der Partei hat nur bedingt funktioniert.
Ich weiß nicht, ob das alles das »neue deutschland« interessiert, aber ich weiß, wovon ich rede. Nach langen Jahren als grüner und linker Landtagsabgeordneter in Nordrhein-Westfalen und Landessprecher der Linkspartei bin ich seit Mai 2014 Vorsitzender einer vierköpfigen Ratsfraktion in Münster. Erstens habe ich eine Schwäche für die berühmten Graswurzelbewegungen, mit denen man ganz nah an der Basis ist. Und zweitens habe ich es seit meinem Eintritt bei der LINKEN als Auftrag verstanden, eine Partei aufzubauen, die für die Menschen einen Gebrauchswert hat - und sich nicht nur als Welterklärer versteht.
Ideologen wie Dogmatikern bin ich in meiner politischen Laufbahn genug begegnet - sie haben mich als unabhängigen Linken immer abgestoßen. Und mit Apparatschiks kann ich schon gar nichts anfangen. Sie alle waren es, die mich vor meiner Parteiarbeit in meiner Abneigung gegen Parteien bestärkt hatten. Zum richtigen Parteisoldaten eigne ich mich nicht. Als ich, aufgewachsen in einer Bergarbeitersiedlung im Ruhrgebiet, Mitte der Siebziger mit dem Beginn des Bergbaustudiums politisiert wurde, war ich begeisterter Anhänger der Außerparlamentarischen Opposition. Die »Hambachgruppe« in Aachen gegen Braunkohletagebaue, die Anti-AKW-Bewegung - das war meine Welt. Später habe ich - immer noch parteilos - die Grünen und 1980 deren NRW-Spitzenkandidaten, den Künstler Joseph Beuys, unterstützt. War schließlich der Strauß-Wahlkampf, da musste man sich als Linker einfach einmischen.
Womöglich wird die Journalistin vom »nd«, die sicher einen DDR-Hintergrund hat, gar nicht so präsent haben, was damals los war im Westen. Wie die Grünen von den anderen Parteien behandelt wurden, als sie 1983 in den Bundestag einzogen. Ihre mühsame Etablierung hab ich später allerdings selbst nur noch von wirklich weiter Ferne beobachten können, weil ich längere Zeit in Nicaragua und Brasilien in NGOs gearbeitet habe. Und als ich 1989 ganz bewusst wieder nach Deutschland kam, weil ich das Gefühl hatte, hier politisch am effektivsten sein zu können, war mit Bewegungen nicht mehr viel los - und ich trat in die GAL in Münster und die grüne Partei ein. Da war ich fast 40 und für mich klar, dass man Parteien braucht, wenn man was verändern will.
Als mein Leben als Politiker in Münster und fast zehn Jahre später im Düsseldorfer Landtag begann, zeichnete sich schnell ab, dass das genau mein Ding ist. Mit Leuten reden, Konzepte erarbeiten, Fehlentwicklungen aufzeigen, Widerstand organisieren - und immer wieder vor Ort Hilfe leisten. Ich glaube, dass ich - inzwischen über 60 - mich wohl immer irgendwie mit Politik beschäftigen werde. Trotz aller Enttäuschungen, die das immer wieder bereithält.
Jedenfalls habe ich mich mit den Jahren zunehmend bei den Grünen nicht mehr wohlgefühlt. Ich glaube dabei nicht, dass ich mich von ihnen entfernt habe, es war eher umgedreht. Die Scharmützel zwischen Realos und Linken, die war ich gewohnt. Als aber mehr und mehr Karrieros auftauchten, Hartz IV mitgetragen und Schwarz-Grün zur ernsthaften Option erklärt haben und den Grünen ihre parlamentarische Linke nicht mehr wichtig war, wurde es für mich Zeit zu gehen. Diskurse und Auseinandersetzungen müssen sein, haben aber bei den Grünen kaum noch stattgefunden. Dort erwartet man mehr und mehr angepasste Leute. Damit wollte und konnte ich irgendwann nicht mehr dienen.
Freilich war das ein längerer und nicht ganz einfacher Abnabelungsprozess - die wenigsten haben ja die Absicht, irgendwann als Dissident zu gelten. In dieser Zeit habe ich auch darüber nachgedacht, ob ich überhaupt noch Lust auf eine Partei habe. Aber als sich PDS und WASG anschickten, eine gesamtdeutsche linke Partei zu gründen, habe ich mich im Frühjahr 2007 entschieden, beim Aufbau mitzuhelfen.
Ich habe es immer und immer wieder erklären müssen, warum ich von den Grünen zur LINKEN gegangen bin. Mach ich es eben heute nach zehn Jahren noch mal gegenüber dem »nd«. Nein, ich hatte nicht die ganz großen Illusionen, dazu war ich nicht mehr jung genug. Ja, ich war davon überzeugt, dass dieses Land eine starke linke Partei braucht, in der ehemalige Sozialdemokraten, Grüne, PDS- und Gewerkschaftsmitglieder und freischwebende Linke zusammenarbeiten. Nein, ich hatte keine Scheu vor Oskar Lafontaine, obwohl ich dem in früheren Jahren - Stichwort: Asylkompromiss, Stichwort: Fremdarbeiter - politisch immer sehr kritisch gegenüberstand. Ja, ich habe mir die Akzeptanz für linke Politik im Westen trotz der jahrzehntealten antikommunistischen Reflexe leichter vorgestellt. Nein, in meiner Familie gab es kein Kopfschütteln, meine Eltern - beide ehemals in der SPD - und viele meiner Freunde haben meinen Schritt gut gefunden. Und ja, ich wurde von vielen Grünen zunächst angefeindet. Und letztlich auch abgestraft.
Aber die Geschichte mit dem Büro im Keller kennt die Journalistin aus Berlin wahrscheinlich schon. Ich habe das damals ja öffentlich gemacht. Nachdem ich aus der Grünen-Fraktion ausgetreten war und der erste und einzige Linkspartei-Abgeordnete in einem westdeutschen Landesparlament war, wurde ich mit meinen zwei Mitarbeitern in den Untergrund des Raumschiffes Landtag verfrachtet. Ich nahm das eher Erwartbare mit Selbstbewusstsein, Widerstandsgeist und Humor, aber auch Mitarbeiter von den Grünen fanden das unanständig - und somit hat sich diese Maßnahme eher gegen diejenigen gewendet, die mir schaden wollten. Und überdies: Als fraktionsloser Abgeordneter habe ich immer als letzter in einer Debatte das Rederecht erhalten. Auch das war durchaus eine Chance, weil nicht nur alle Abgeordneten, sondern auch viele Journalisten kurz vor einer Abstimmung längst wieder im Saal waren und mir zuhörten. Ich hatte freilich unglaublich viel zu tun, schließlich konnte ich mich längst nicht nur - wie zuvor - vor allem auf die Haushalts- und Finanzpolitik konzentrieren. Dass in dieser Zeit besonders kreative Lösungen gefragt waren, habe ich in guter Erinnerung. Zum Beispiel, als ich mit einem oppositionellen »Hartz-IV-Hearing« unter eine Brücke zog, nachdem mir die Landtagsverwaltung Räumlichkeiten verwehrt hatte.
Etwas anders erinnere ich allerdings die Zeit, als die LINKE in NRW endlich in Fraktionsstärke in den Landtag eingezogen war und als Zünglein an der Waage Rot-Grün zwischen 2010 und 2012 tolerierte. Nicht, weil Frau Kraft mich inzwischen wieder siezte, wohl aber, weil es viel Energie brauchte, den Laden zusammen zu halten und eigene Akzente zu setzen. Da waren die Belastung im Parlament, der Druck aus der Partei und von außen. Und die Gewissheit, dass diese Landesregierung die erste Chance nutzen würde, das ungeliebte Bündnis aufzukündigen, was im Sommer 2012 ja auch geschah. Dennoch bleibe ich dabei, dass linke Politik auch im Westen mit ein paar Prozenten etwas ausrichten kann. Die Studiengebühren in NRW wären ohne uns zu diesem Zeitpunkt eben nicht abgeschafft worden.
Solcherart Gebrauchswert der Partei schwebt mir noch viel häufiger vor. Doch immer wieder klemmt die Linkspartei in den Debatten um Opponieren, Tolerieren und Mitregieren fest, viel zu viele Formelkompromisse bremsen uns aus. Der Linkspartei fehlt, davon bin ich überzeugt, eine starke Mitte - und viel mehr starke Persönlichkeiten wie ein Bodo Ramelow in Thüringen oder Gregor Gysi. Wir sind auf niedrigem Niveau stabil, leiden unter mangelnder Profilierung, geben kein geschlossenes Bild nach außen ab. Wenn ich daran denke, dass die von einigen insbesondere in Nordrhein-Westfalen kultisch verehrte Sahra Wagenknecht ausgerechnet zu jener Zeit, als die Kanzlerin ihren humanistischen Moment hatte, von »verwirktem Gastrecht« sprach, bekomme ich noch heute ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Aber ich bin pragmatischer Utopist. Ich hoffe immer noch, dass die Spaltung zwischen den Flügeln der Partei konstruktiv gelöst werden kann. Der lange Marsch, der uns bevorsteht, um wirkliche Veränderungen zu erreichen ohne selbst nur Teil des Systems zu werden, das ist eben was für Marathonläufer. Sprinter, die auf den schnellen und womöglich nur persönlichen Erfolg aus sind, helfen da nicht viel.
Ist schon komisch, was einem so durch den Kopf geht, wenn man seinen ganz persönlichen Weg erklären soll, der - und darauf lege ich durchaus einen gewissen Wert - nie stromlinienförmig war. Denke ich an jene Zeit, als ich bei den Grünen mit der Parteipolitik anfing, fällt mir spontan dieser einzigartige Sommer der Anarchie ein, den ich nach der Wende im Osten verbracht habe. Bis dahin hatte ich mit der DDR nicht viel am Hut, schon wegen deren Haltung zur angeblich sicheren Atomkraft im Osten - aber diese Aufbruchstimmung 1989/90 hat mich begeistert. Das war schon eine tolle Zeit. Bei der Gründung der LINKEN war das noch mal ähnlich. Doch einen so großen Bogen werde ich mit der Journalistin wohl kaum schlagen. Meine Notizen von gestern Abend werde ich erst einmal stecken lassen können. Jetzt kommt er endlich, der Zug aus Berlin.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.