Jenseits der Parolen

Europapolitischer Fortschritt braucht mehr als Schlagworte. Tom Strohschneider über die Schwierigkeiten linker Debatte

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein Parteitag ist dazu da, Bilder zu produzieren. Was hat das Delegiertentreffen der Linkspartei in Hannover zu erzählen? Unter anderem, dass beim Thema Europa die linken Emotionen hoch hergehen. Über 40 Namen standen in Hannover auf der Rednerliste, als es um die Krise und die Zukunft der EU ging. Von »Neustart« ist dort viel die Rede gewesen, von den Fehlkonstruktionen der EU, auch von den Möglichkeiten, sie zu verändern. Ein Antrag, der für die Idee einer »Republik Europa« eintrat, wurde abgeschmettert. Das Echo: Die einen warfen den anderen vor, auf »Kindergartenlevel« zu diskutieren, die anderen den einen »europafeindliche Demagogie«.

Wer sich mit dem innerparteilichen Koordinatensystem nicht auskennt, also auch nicht die Codes dechiffrieren kann, die in den politischen Streitfragen mitschwingen, dürfte ein wenig ratlos zurückbleiben. Zumal nicht nur der Parteitag selbst Bilder produziert, sondern eine mediale Öffentlichkeit entscheidet, welche davon bei einer Mehrheit hängen bleiben. Zum Beispiel die Aussage, die EU sei von Anfang an ein Projekt des deutschen und des französischen Kapitals gewesen sei. Soll heißen: unverbesserlich.

Das ist ein bisschen richtig und falsch zugleich, es unterschlägt viele Dimensionen dieser EU, um die argumentative Wirkung einer bestimmten Kritik zu verstärken. Es nimmt einen Teil der Wahrheit in Anspruch, zum Beispiel, dass die EU-Verträge nur unter bestimmten Umständen überhaupt grundlegend veränderbar sind, um einen anderen Teil der Wahrheit zurückzuweisen, dass nämlich auch unterhalb der Ebene von Vertragsmodifikationen ziemlich weitreichende Änderungen möglich wären.

Es steckt darin auch eine Haltung, die einen Gedanken ausblendet, den Marx nicht ohne Grund äußerte, dass nämlich die bürgerliche Gesellschaft in dem, was sie tut, ein unglaublicher Fortschrittsmotor ist - dass dieser Fortschritt aber alles Mögliche tut, nur leider nicht geradlinig auf die Entfaltung jener Potenziale hinauszulaufen, die wohl auch erst in einer anderen Gesellschaft zur Entfaltung kommen können. Was nicht dagegen spricht, vorher schon den halben Kuchen zu nehmen. Dafür muss man etwas tun, in den richtigen Situationen und mit der dialektischen Gelassenheit, die nötig ist, trotz geringen Eigengewichts durch Kooperation und Cleverness auch die großen Hebel betätigen zu können. Das Internet wurde übrigens auch nicht von linksalternativen Freaks in die Welt gebracht, trotzdem nutzen Linke es und versuchen, den Einfluss von Behörden und die Logik der Marktförmigkeit zurückzudrängen.

Einmal abgesehen davon, dass man sich als Linker nicht immer aussuchen kann, auf welches Spielfeld man sich begibt. Und richtig ist auch: Mit ein bisschen symbolhaftem Proeuropäismus wird man die EU-Welt ebenso wenig in dem Maße ändern können, das längst und unbestritten nötig wäre.

Dabei muss, wer die Europa-Frage von links nicht nur auf Parteitagen, sondern praktisch beantworten will, ständig neue Umstände zur Kenntnis nehmen. Der die EU-Debatte stark beeinflussende Aufstieg der Rechtspopulisten, das legen die Ergebnisse aus Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden nahe, scheint zumindest bei Wahlen etwas gebremst. Einerseits. Andererseits: Angesichts der globalen Lagen ruft nun auch die Front des Status quo nach »europäischer Erneuerung«, was das linke Lager zu mehr Unterscheidbarkeit zwingt. Europa ist zudem ein Thema, das auch abseits von Parteitagsdebatten und Politikwissenschaft gerade jüngere Wähler mobilisiert, also aus strategischen Gründen nicht rechts liegen gelassen werden kann.

Was heißt das praktisch? Weniger parolenhaft über die EU zu reden, die Kritik an den Grundproblemen so ernst zu nehmen wie die Möglichkeiten, die Union umzugestalten. Vor allem aber: konkreter zu werden. Gregor Gysi hat auf dem Linksparteitag gefordert, die EU »von einer Ursache der Krise zu einem Instrument der Bekämpfung der Krise« zu machen. Das klingt aus der Perspektive einer schwachen gesellschaftlichen Linken eher fern. Aber es gibt keine Alternative. Und: Gerade Linke pochen doch sonst gern auf Zielsetzungen, die mit dem Vorwurf konfrontiert sind, unrealistisch oder utopisch zu sein. Ein Grund, davon abzulassen, war das nie. Das sollte auch für das neue Europa gelten.

Europa verändern - aber wie? »nd« holt die EU-Debatte in den Salon. U.a. mit Gregor Gysi, Imke Dierßen, Sylvia-Yvonne Kaufmann. Freitag, 16.6., ab 11 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1, Berlin.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.