Tarifflucht und Wildwuchs
Im Kfz-Handwerk gibt es immer mehr Großunternehmen auf der einen und immer mehr Kleinstbetriebe auf der anderen Seite
In der diesjährigen Tarifrunde im Kfz-Handwerk gibt es in Niedersachsen und der Pfalz die ersten Abschlüsse. Im Großteil der Tarifbezirke laufen die Verhandlungen aber noch. Sie werden erschwert durch Tarifflucht und organisatorische Zersplitterung auf der Unternehmerseite. Die Branche durchläuft seit einigen Jahren einen Strukturwandel: Einerseits findet ein Konzentrationsprozess zur Bildung immer größerer, mit den Automobilkonzernen verbundenen Vertragshändler und -werkstätten statt, auf der anderen Seite wächst die Zahl der Klein- und Kleinstbetriebe. Noch unübersichtlicher wird die Situation dadurch, dass ein Teil dieser Kleinbetriebe ihrerseits wiederum großen, überregional agierenden Unternehmensgruppen wie Pit Stop oder ATU gehören. »Bei den Arbeitgebern herrscht Wildwuchs«, brachte es Thomas Gabel, Mitglied der IG Metall-Tarifkommission in Hessen, kürzlich auf den Punkt.
Die Gewerkschaft fordert in dieser Tarifrunde fünf Prozent mehr Geld. Für die großen Niederlassungen wäre dies wirtschaftlich locker drin, denn sie sind gut ausgelastet. So hat etwa die »Volkswagen Original Teile Logistik« 2016 das beste Geschäftsergebnis in der Unternehmensgeschichte erzielt. Im Schnitt liegen die Umsatzsteigerungen im Kfz-Handwerk bei über fünf Prozent. Auf der anderen Seite gibt es aber auch viele Kleinunternehmen, bei denen es nicht so gut läuft. Insgesamt sind nur noch wenige Betriebe an Tarifverträge gebunden.
Das war nicht immer so. Mit Ausnahme der neuen Bundesländer hatte die IG Metall bis zum Jahr 2008 im Kfz-Handwerk noch klassische Flächentarifverträge mit den jeweiligen Landesinnungen. Seither macht sich jedoch wie im Osten auch in den alten Bundesländern die Tendenz zu sogenannten freien Tarifgemeinschaften bemerkbar. Zugleich schrumpft die Zahl der Betriebe um jährlich rund 1000 Händler. Gab es 2010 noch 38 300 Betriebe in der Branche, sind es mittlerweile 300 weniger. Laut IG Metall droht dem Kfz-Gewerbe damit die größte Marktbereinigung in seiner Geschichte.
Trotz des Rückgangs der Betriebsanzahl insgesamt wächst die Zahl der Kleinstbetriebe. Dabei handelt es sich meist um Kfz-Meister, die sich selbstständig machen oder ein Nebengewerbe anmelden. Die Zahl der fabrikatsgebundenen Betriebe - sogenannte Vertragshändler, -werkstätten oder Niederlassungen - sank seit 2010 um 650 Betriebe auf nunmehr 17 600. Im Gegenzug stieg die Zahl der freien Werkstätten von 20 050 auf 20 400 Betriebe. Hierbei handelt es sich meistens um Kleinstbetriebe. Die Mehrzahl der Beschäftigten ist bei den fabrikatsgebundenen Betrieben unter Vertrag.
Allein 40 000 Beschäftigte der Branche arbeiten in Tochterfirmen bzw. Niederlassungen der vier großen Automobilhersteller MAN, Daimler, VW und BMW. Hinzu kommen weitere 34 220 Beschäftigte, die in 14 Konzernen oder Unternehmensgruppen mit mehr als 1000 Beschäftigten arbeiten. Alles in allem arbeiten mittlerweile nach Gewerkschaftsangaben rund 25 Prozent aller Beschäftigten des Kfz-Gewerbes in Großbetrieben oder Unternehmensgruppen. Sie haben im Verhältnis zu den mittelständischen Betrieben bessere Chancen, den Marktbereinigungsprozess zu überleben.
Selbstkritisch schätzt die IG Metall ein, dass sie schlicht zu wenig Mitglieder im Kfz-Handwerk hat. Vor ein paar Wochen erklärte auch der Landesinnungsverband in Hessen, keine Tarifverträge mehr mit der IG Metall abschließen zu wollen, obwohl das eigentlich seine Aufgabe ist. »Nicht nur Unternehmen, sondern auch die meisten Kfz-Landesinnungen haben in den letzten ein, zwei Jahrzehnten organisierte Tarifflucht betrieben«, so Alwin Boekhoff, Tarifexperte für das Handwerk beim IG-Metall-Vorstand, gegenüber »nd«. »Kfz-Innungen haben sich durch die Gründung von Tarifgemeinschaften in den meisten Bundesländern komplett aus der Tarifpolitik verabschiedet. Diese Tarifgemeinschaften vertreten aber nur einen Bruchteil der Innungsbetriebe.«
So ist, wie in vielen Wirtschaftsbereichen, der Osten Deutschlands nach der Wiedervereinigung zur Blaupause für die Deregulierung der Arbeitsbeziehungen auch in der alten Bundesrepublik geworden. Mit viel Mühe und Ressourceneinsatz versucht die IG Metall, verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Letztlich gehe es um mehr und aktive Mitglieder, betont Boekhoff. Dazu müsse man auch die kleineren Betriebe organisieren, was ein zähes Unterfangen ist. »Organizing« an der Basis, mit Gesprächen von Angesicht zu Angesicht und dem geduldigen Aufbau von Aktivenkernen ist der Schlüssel zum Erfolg. Ein interessanter Ansatz in diesem Zusammenhang ist die Kampagne autohaus-fair.de der IG Metall Küste, bei der tarifgebundene Betriebe ausgezeichnet werden.
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