Warum schweigt ihr bei Schäuble, liebe Rollifahrer?

Man muss sich nicht für Dinge rechtfertigen, die andere getan haben

  • Roberto J. De Lapuente
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Muslime und ihre Verbände haben sich also letzte Woche mal wieder nicht ausreichend vom Islamismus distanziert. Der Innenminister zeigte sich enttäuscht. Der Justizminister forderte indes eine klare Haltung. Die Leitmedien skandalisierten eifrig hinterher: Ja warum distanzieren sie sich denn nicht? Deutsche Christen haben sich nach der NSU-Geschichte doch auch distanziert. Gut, sie marschierten nicht auf Demos mit und hielten als Parole »Je ne suis pas Nazi!« in die Luft. Niemand ist schließlich ein Nazi, bis das Gegenteil bewiesen ist. Man muss sich außerdem nicht für Dinge rechtfertigen, die andere getan haben. Verursacherprinzip und so. Nein, sie zeigten schlicht Betroffenheit – so nennt man die Distanzierung in Fällen wie jenen. Viele blieben damals daheim, aber kein Minister verurteilte diese Stubenhocker.

Haben Sie sich, liebe Leserin, von der Bundeskanzlerin oder der britischen Premierministerin distanziert? Im deregulierten Land der Zweitgenannten verbrannten Menschen aus Sozialwohnungen, populistisch gesagt nur deswegen, weil sie arm waren. Distanzieren Sie sich, setzen Sie ein Zeichen! Und Sie, bester Leser? Trump, Bin Ladin ... Hitler? Damit ist doch alles gesagt, nicht wahr? Wer als Lesbe was auf sich hält, sollte Abstand zu Vera Int-Veen gewinnen. Die Frau führt traurige Singles und geistig behinderte Menschen vor. Haben sich eigentlich Bundeswehrsoldaten von dem Bundeswehrsoldaten distanziert, der sich zu Anschlagszwecken als Flüchtling verkleiden wollte? Jede Mutter von acht Kindern sollte sich außerdem mal überlegen, wie sie mit der Causa von der Leyen umgehen will. Die Frau mag den Krieg. Und Rollstuhlfahrer: Woher kommt eigentlich dieses verdächtige Schweigen zu Schäuble?

Ich hör die Leserschaft schon seit Mitte des letzten Absatzes dazwischenrufen, ich solle doch umgehend diesen hanebüchenen Unsinn beenden. Und ja, sie haben völlig recht. Denn jemanden zu unterstellen, er müsse sich distanzieren, das bedeutet ja zunächst mal, dass man voraussetzt, er stehe in unmittelbarer Nähe, sodass ein Raumgewinn überhaupt geometrisch machbar ist. Sich von jemanden zu distanzieren heißt immer, erstmal bei jemanden, an seiner Seite gestanden zu haben. Steht jemand schon meterweit weg, muss er sich nicht distanzieren, keinen Abstand gewinnen – das hat er ja schon.

Die kollektive Aufforderung zur Distanzierung trägt im Kern folgendes Motto: Mach das, was sollen sonst die anderen von dir denken. Das ist so provinziell. Das ist so Fünfziger. Die Rücksichtnahme darauf, was andere von einem denken könnten: Bei der Serie »Mad Men« haben wir über diesen Affekt im Vorstadtidyll den Kopf geschüttelt. Gut, dass wir da heute raus sind, hat man sich als Betrachter gedacht. Und dann schaffen Ministerien und Medienhäuser eine provinzielle Leitkultur aus den Fünfziger-, Sechzigerjahren heran und empfehlen den Muslimen im Lande, wie sie auftreten sollen, damit da bloß kein falscher Verdacht aufkommt.

Die Muslime im Lande sind sicherlich nicht geschlossen gestandene Antiterroristen. Sie gleichen da den Einheimischen, unter denen man nach brennenden Flüchtlingsheimen hie und da auch mal dem Verständnis lauschen konnte: Das sei zwar nicht richtig, dass man da was niederbrennt, sagen solche Zeitgenossen, aber es sind halt auch so viele Fremde im Land, man muss doch was machen. Auch einige Muslime werden so oder so ähnlich »argumentieren«. Die werden sich auf einer Anti-Demo sicher genauso wenig zeigen, wie ihr deutsches Pendant. Dabei wären sie die Adressaten solcher Aufforderungen.

Welche moralische Distanzierungspflicht gibt es allerdings für jemanden, der schon Raum zwischen sich und den Radikalen hat? Ist es nicht viel eher eine Beleidigung, eine Herabsetzung, auch ein xenophob motivierter Imperativ, der hier wirkt? So wie es eine unglaubliche Frechheit und Dummheit wäre, man würde Schäubles Sparwut zu einer psychischen Marotte von Rollstuhlfahrern erklären und ebenjene auffordern, sich dieser Problematik zu stellen, am besten als ersten Schritt damit, sich von Austeritäts-Schäuble zu distanzieren. Was sollen denn die anderen von euch denken, liebe Rollifahrer?

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Mehr aus: Der Heppenheimer Hiob