Gunst der Stunde soll zur Ehe führen
SPD will die von Angela Merkel erwogene Gewissensentscheidung umgehend im Bundestag herbeiführen
30 Mal wurde eine Beratung des Themas von der Großen Koalition im Bundestag verhindert, hat Harald Petzold, der queerpolitische Sprecher der Linksfraktion mitgezählt. Doch nun scheint die gleichberechtigte Ehe für gewillte Partner, welcher sexuellen Couleur und Ausrichtung auch immer, noch in der letzten Sitzungswoche des Parlaments vor der Sommerpause plötzlich Wirklichkeit zu werden.
Die Gunst der Stunde ergibt sich dank des Schwenks der Bundeskanzlerin. Sie wünsche sich eine Diskussion, die »eher in Richtung einer Gewissensentscheidung geht«, hatte Angela Merkel bei einer Veranstaltung am Montagabend gesagt. Die Mehrheitsverhältnisse im derzeitigen Bundestag sind klar: Mit SPD, der Opposition aus Linksfraktion und Grünen sowie Teilen auch der Union würde eine Abstimmung nach Gewissen, also ohne Fraktionszwang zugunsten der »Ehe für alle« ausgehen.
Wenn es stimmt, was gleichzeitig kolportiert wurde, dass die neue Linie mit CSU-Chef Horst Seehofer abgestimmt sei, darf der Schwenk wohl als wahlkampftaktisches Manöver der Unionsspitzen gewertet werden, mit dem sie das Thema bis zur Bundestagswahl im September zu neutralisieren gedachten, nachdem die SPD wie zuvor schon FDP und Grüne die Ehe für alle zur Bedingung jeder neuen Koalition erklärt hatte. Ob Merkel damit gerechnet hat, dass SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz schon am nächsten Tag ankündigen würde, die Frage werde noch in dieser Woche im Bundestag zur Abstimmung gestellt? Erste Reaktionen aus den eigenen Reihen lassen ahnen, dass Merkel nun mit Groll und Widerstand der Konservativen zu rechnen hat. Ist es doch längst nicht der erste Fall, dass die CDU-Vorsitzende Merkel einen radikalen Kurswechsel ihrer Partei erzwingt - Stichworte sind Atomausstieg, Mindestlohn oder der Abschied von der Wehrpflicht. Der CSU-Abgeordnete Peter Ramsauer warnte in der »Rheinischen Post« bereits, die CDU-Führung solle sich hüten, auch noch die letzten konservativen Werte zu zerstören. Und namens der sächsischen CDU-Bundestagsabgeordneten meinte deren Landesgruppenchef Michael Kretschmer gegenüber dpa, es gebe keinen Änderungsbedarf an der geltenden Rechtslage. Diese erlaubt eingetragene Partnerschaften, aber verweigert den Betroffenen die letzte rechtliche Gleichstellung mit Eheleuten.
SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann machte am Dienstag klar, die Abstimmung werde in dieser Woche erfolgen. Er hoffe auf Einvernehmen der Koalition, aber »das wird diese Woche passieren«. Am Nachmittag hieß es, Merkel habe den Fraktionszwang für die Abstimmung aufgehoben. Dem Bundestag liegen Gesetzentwürfe der LINKEN, der Grünen und vom Bundesrat vor. Letzterer dürfte Favorit der SPD sein. Seite 6
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.